Gunnar Kaiser: Des Kaisers letzte Reise

Gunnar Kaiser verlor am 12. Oktober den Kampf gegen den Krebs, er wurde nur 47 Jahre alt. Sein Leben galt bis zuletzt dem Kampf für die Freiheit und das freie Wort. Während Corona gab seine Kritik vielen Menschen Halt.

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Gunnar Kaiser: Des Kaisers letzte Reise
Gunnar Kaiser 2020 bei einer Veranstaltung in München.© IMAGO / ZUMA Wire

Das kritische Lager ist vielgestaltig, ein buntes Mosaik von Standpunkten, Richtungen und Ideen, die sich manchmal sogar spinnefeind sind. In seltener Einigkeit trauern nun alle um Gunnar Kaiser, der es wie kaum ein anderer verstand, sie trotz aller Gegensätze an seinen Tisch zu holen und mit allen Gesprächspartnern den gemeinsamen Nenner zu suchen – und zu finden. Mit seiner verbindlichen Art war er damit auch eine große Bereicherung für die Gegenöffentlichkeit.

Er lebte für das freie Wort

Mit Meinungen ist es bekanntlich wie mit der Afterfurche: Jeder hat eine. Kaiser wusste das – und er wusste auch: Wer so starke Meinungen und Prinzipien hat wie er, der wird auch Widerspruch ernten. Aber für ihn, einen der letzten Liberalen im ursprünglichen Sinne, galten eherne Prinzipien: Das Voltaire’sche Prinzip der freien Rede, der Respekt vor dem anderen – und die Tatsache, dass Reden Menschen zusammenbringt.

Die Suche nach dem Verbindenden als Heilmittel gegen die von den politischen Eliten verordnete Spaltung: Das prägte auch meine erste offene Wahrnehmung von Gunnar Kaiser. Vor vier Jahren drehte er zunächst ein kritisches Video über die Identitären, bebildert mit einem zerknirscht dreinblickenden Martin Sellner. Kurz darauf lud er denselben zu einem fast zweistündigen Gespräch ein – zu einer Zeit, als dieser in der gesamten Medienlandschaft als Gottseibeiuns galt. Es war eines der zivilisiertesten und niveauvollsten „Streitgespräche“, die ich je erlebt habe.

Nur im gesunden Sinne „radikal“

Kaisers YouTube-Kanal war damals für viele ein Geheimtipp, ein Liberaler unter vielen. Für mich, eigentlich ein Kritiker dieser Denkschule, war er einer der wenigen, dem ich stundenlang zuhören konnte. Einer, der die „Cancel Culture“ schon kennengelernt hatte, aber noch nicht in der Intensität, wie er sie später erleben sollte. Einer, der die brennenden Themen ansprach, aber noch nicht ganz bereit schien, gesellschaftliche Fehlentwicklungen in ihrem Kern zu hinterfragen, sein Glaube an die freiheitliche Gesellschaftsordnung war unerschütterlich. Über Nacht wurde sie zur Fata Morgana, als Freiheit und Grundrechte im Handumdrehen abgeschafft wurden.

Viele hätten den Mut verloren, aber für Kaiser war es ein Grund, das letzte Blatt vor dem Mund zu entfernen. Er war einer der ersten Meinungsmacher, der das offizielle Corona-Narrativ vehement und scharfsinnig in Frage stellte. Aus der Sicht des Establishments mag er sich „radikalisiert“ haben; in Wirklichkeit hat er sich weder im Ton noch in der Herangehensweise radikalisiert, sondern nur dadurch, dass er die Probleme nun an der Wurzel anpackte. Sanft und sachlich, aber schonungslos. Es ging ihm darum, für Freiheit und Wahrheit einzutreten und andere zu ermutigen, es ihm gleichzutun. Viele bekannte Stimmen der Coronakritiker bereicherten in der Folge sein Format.

Geöffnete Augen und Münder

Plötzlich Galionsfigur: Das wäre vielen zu Kopf gestiegen, nicht aber Kaiser. In seinem Auftreten und seiner Lebensart war er derselbe grundanständige Mensch wie in den Anfangstagen, der mit seinem ebenso feinen wie scharfen Verstand Komplexes verständlich herunterbrechen, aber auch Rustikales eloquent ansprechen konnte. Weggefährten bestätigen, dass er im persönlichen Umgang bodenständig blieb. Den Rummel um seine Person nahm er an, nicht um sich im Ruhm zu sonnen, sondern um andere Augen zu öffnen.

Bis zuletzt unterschied er seine Gesprächspartner nicht nach „klein“ und „groß“, nach populär und geächtet oder nach dem Grad der gesellschaftlichen Anerkennung ihrer Gesinnung. Sein Kriterium, Menschen eine Bühne zu geben, war allein, ob sie etwas Sinnvolles zu sagen hatten. Er selbst blieb, seinem ursprünglichen Zivilberuf entsprechend, immer Lehrer und Mentor. Aber immer ohne pädagogisch erziehen zu wollen – außer vielleicht zur kritischen Mündigkeit.

Der Geist, der ihn beseelte

Selbst als sein Krebsleiden mit voller Wucht ausbrach, verlor Kaiser seine Lebenskraft und Positivität nicht. Statt in Lethargie oder gar Selbstmitleid zu verfallen, agierte er mit ungebrochenem Tatendrang. Er, der so vielen Menschen in schweren Zeiten Hoffnung und Denkanstöße gab, erbat selbst in schweren Stunden keine „Rückzahlung“. In der Gewissheit, bald sterben zu müssen, fragte er sich, ob er genug getan habe. Seine letzten Monate habe er genutzt, um die Welt zu bereisen, die er so gut erklären konnte.

Nachdem er nun seine letzte Reise ins Jenseits angetreten hat, hinterlässt er eine große, schmerzliche Lücke. Er war einer der Guten: Ein Freigeist, der dennoch nach Vernunft strebte; ein Schöngeist, der auch die einfachen Dinge und Menschen schätzte; aus der Sicht des Mainstreams jedoch ein Poltergeist, der dessen engen Konsens störte, weil er zu viele Fragen stellte – und zwar ohne zu poltern. Der Diskurs, der ihn auszugrenzen versuchte, konnte ihn nicht ganz loswerden, weil er die Stimmen zu sich holte und damit selbst Diskussion und Sinnerforschung suchte.

Letzte Reise – Andenken bewahren

Wenn im Januar posthum sein letztes Buch erscheint, wird er noch einmal die Debatten aufwühlen: Jene des Feuilletons ebenso wie jene der Menschen, welche dieses angewidert ablehnt. Ich weiß nicht, wohin die Seele Kaisers, der zwischen allen Welten hin- und herreisen konnte, ohne sich verbiegen zu müssen, geht, denn die erbauliche Debatte, ob es sich um das Himmelreich, einen Ort wie Walhall, ein Paradies in verschiedenen Formen oder einen Kreislauf der Wiedergeburt handelt, entfällt, da er selbst der beste Moderator einer ebenso kontroversen wie notwendigerweise gesitteten Diskussion gewesen wäre.

Eines weiß ich aber: Egal, in welches Jenseits er gereist sein mag, dieser Ort ist nun reicher – das Tischthema dort bestimmt nämlich er. Einst werden wir uns auch dazu gesellen, bis dahin können wir sein Andenken in dieser Welt bewahren. Am besten, indem wir selbst unermüdlich nach der Erkenntnis suchen, die kritischen Denker aller Lebenswege vernetzen und wieder lernen, einander zuzuhören und zivilisiert die Nuancen, die uns unterscheiden, ausdiskutieren.