FREILICH Gespräch: „Bei mir schrillen die Alarmglocken“

Denken im Unruhestand: FREILICH spricht mit „TUMULT“-Herausgeber Frank Böckelmann über kritisches Denken, ’68er und darüber, warum es Unruhe braucht.
Interview von
7.3.2022
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4 Minuten Lesezeit

Denken im Unruhestand: FREILICH spricht mit „TUMULT“-Herausgeber Frank Böckelmann über kritisches Denken, ’68er und darüber, warum es Unruhe braucht.

FREILICH: Herr Böckelmann, vor allem die deutsche Medienlandschaft wirkt zurzeit seltsam  überdreht. Erleben wir die Hysterie einer überinformierten, im Kommunikationswahnsinn orientierungslos taumelnden Gesellschaft, die sich um sich selbst dreht, oder sehen wir Frontlinien ideologischer Kämpfe zwischen links und rechts?

Frank Böckelmann: Bekanntlich sympathisieren mehr als 90% der deutschen Journalisten mit  Grünen, SPD, Linker oder FDP – und aus ebendiesem Grund lieben sie Merkel. Seitdem eine Bundesregierung unter Ausschluss von CDU/CSU zu erwarten ist, gebärden sich die Moderatoren und Kommentatoren des Fernsehens und der großen Tages- und Wochenblätter, als stünden sie unter Strom – nur die „FAZ“ schmollt. Der Zeitgeistjournalismus lebt davon, Orientierungslosigkeit in Euphorie zu übersetzen. Von allen Bindungen an die eigenen Leute befreit, wähnt er sich in einer Art von Lehramt für die Verbreitung von Wahrheit und Menschlichkeit.

Das hat die Wirkung eines täglichen Dopings. Die Schwärmerei für Toleranz und Vielfalt, Entgrenzung und Weltoffenheit macht fortschrittstrunken, aber auch schwindlig. Es gilt ja nun als schäbig, noch irgendwie zu unterscheiden zwischen verschiedenen Gesichtern und Herkünft­en und Verhaltensweisen und sexuellen Vorlieben. „Vielfalt“ ist politischer Kitsch und ein Werbeslogan für Einkaufszentren. Alles wird austauschbar.

Man gerät in eine Art von Schleudertrauma – woran kann man sich noch halten? Orientierung bringt allein der Kampf gegen das Böse, gegen rechtsextreme, völkische, nationalistische Brut, das Gesindel, das noch Unterschiede macht. Kommunikationshysterie und Wiederbelebung der alten ideologischen Kämpfe zwischen links und rechts schließen sich also nicht aus. Sie schüren sich gegenseitig.

Vielleicht sollten wir im Sinne der Konsensstörung auch mal die Grundsatzfrage stellen: Taugt Links-rechts noch was? Und was ist vorn und hinten?

Aus den alten weltanschaulichen Gegensätzen ist in Deutschland und Österreich in Spektakel der Anzüglichkeiten und Ressentiments geworden. Ein  Wolkenkuckucksheim steht gegen das andere. Die sogenannte Linke ist nicht mehr gesellschaft­lich geerdet, und ebenso wenig sind es die Haltungen der sogenannten Konservativen. „Rechts“ nennt sich sowieso fast niemand mehr, und auch das Attribut „neurechts“ wird meist als Schimpfwort gebraucht, als Selbstkennzeichnung meines Wissens nur beim Antaios-Verlag und in der „Sezession“.

Meiner Auffassung nach ist die Linke als eigenständige politische Kra­ verschwunden. Was soll das für eine Linke sein, die kein sozialrevolutionäres Programm hat, nicht mehr die Umwälzung der Produktionsverhältnisse anstrebt und sie Vermögensverwaltern und Indexfonds wie BlackRock überlässt, deren Geschäft­smodell es ist, alle Menschen zu Aktionären zu machen? Das Etikett „links“ war spätestens 1968 verschlissen, als klein- und großbürgerliche Radikalinskis sich per Sprechakt zu Feinden des „Systems“ ernannten, klassenkämpferisch kostümierten, auf der Woge des Zeitgeistes schwammen und Individualisierung predigten. Versteht man „links“ als egalitär, verliert sich das Prädikat in der Forderung nach Chancengleichheit, einem Stereotyp aller sozialen Bewegungen und Milieus und Medien und aller auf ihre „Identität“ bedachten Gruppen.

„Links“ zu sein ist nur noch ein abgegriffenes humanitäres Gütesiegel. Diejenigen, die im Weltnetz zappeln, legen mehr Wert auf Dabeisein und Beachtung und Subventionen als auf eine andere Verteilung des Mehrwertes. Auch die als „rechts“ diffamierten, verlegenheitshalber „konservativ“ genannten Personen sind, bei Lichte besehen, Herren und Damen ohne Unterleib. Früher saßen in den Parlamenten Würdenträger, die auf einer ständischen Gesellschaft­sordnung und auf Elitenherrschaft­ beharrten. Beides beruhte auf Traditionen, auf solchen wohlgemerkt, die sich aus eigener Kra­ fortpflanzten. Heute sind hierzulande sämtliche kulturellen Überlieferungen, auch die christlichen und raumgebundenen, ausgehöhlt und ausgelaugt. Manche werden noch künstlich beatmet.

Streng genommen entfällt damit die Bedingung der Möglichkeit einer politischen Rechten. Aber damit kein Missverständnis entsteht: Anders als die Überlieferungen, die Rituale, Sitten und Gebräuche, wären die europäischen Errungenscha­ften durchaus noch lebenskräft­ig und widerstandsfähig, wenn sie von den Europäern nicht preisgegeben würden: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Sinn für Fair Play, Meinungsfreiheit, Arbeitsethos und Gemeinwohlorientierung, Streben nach Erkenntnis, Fähigkeit zur Selbstkritik, Nationalstaat, Ausdifferenzierung des Politischen, ja selbst Institutionen wie Stadt, Staat, Heer und Universität, kurzum all das, was Rolf Peter Sieferle das „soziale“ und „kulturelle Kapital“ genannt hat. Dieses Kapital wiederum ist abhängig von „der Eindeutigkeit der Gruppenzugehörigkeit“.

Mit Ihrer Zeitschrift „TUMULT“ betrieben Sie lauter Konsensstörungen. Sie halten, wenn man Ihnen lautere Motive unterstellt, Konsens offenbar für einen zu störenden faulen Kompromiss. Aber ist Konsens nicht eine demokratisch zustande gekommene Form der volonté générale, des allgemeinen Willens?

Der heute in Deutschland herrschende Konsens, die Berufung auf die sogenannten europäischen Werte, sagt den Deutschen nicht, dass und auf welche Weise sie zusammengehören. Er ist weder sinngebend noch handlungsleitend. Man behauptet, er sei eine globale volonté générale, aber auch das ist er nicht, und träfe es zu, wäre er ein Allerweltsmerkmal und nichts Besonderes. Dieser Konsens gilt in Deutschland als höchste Staatsräson und darf nicht angefochten werden. Er postuliert Entgrenzung um der Entgrenzung willen. Damit entspricht er dem Tauschprinzip: Alles ist konvertierbar. Und er entspricht dem technokratischen Machbarkeitswahn, der alle Gegenstände und die Beziehung zwischen ihnen gleichgültig werden lässt.

Das wachsende Interesse an Verfügbarkeit macht uns blind für die Außenwelt. Die sogenannten westlichen Werte – Chancengleichheit, Selbstbestimmung, Toleranz, Vielfalt und Weltoffenheit – sind längst zu bloßen Teilnahme- und Verkehrsregeln heruntergekommen. Trotzdem werden sie aufgerufen, als seien sie Konzentrate unanfechtbarer Programme. Ich zitiere aus dem Editorial der „TUMULT“-Ausgabe vom Herbst 2014: „Man schwärmt von Vielfalt und Offenheit; doch hat man dabei wohl ein Stelldichein verträglicher Passagiere im Sinn – eine Art universale Autobahnraststätte.“ In Wirklichkeit sind diese „europäischen Werte“ unverträglich, denn sie dulden keinen Eigensinn. Aber jede Lebensart, jede Gesinnung und jede Daseinsordnung grenzt sich gegen andere ab – und ist daher von einer gewissen Unduldsamkeit geprägt.

Ganz persönlich gefragt: Wie geht es dem Projekt „TUMULT“? Erzeugt es den Aufruhr, den es produzieren soll?

Halten zu Gnaden, Herr Novak, unter „Tumult“ verstehen wir keinen Aufruhr, sondern einen unbeabsichtigten Auauf oder, sagen wir, ein unwillkürlich entstandenes Durcheinander. Tumulte kann man nicht anzetteln. Die Vierteljahresschrift­ „TUMULT“ war nicht meine Idee. Der Wiener Lektor Horst Ebner und ich haben im Jahr 2012 den Vorschlag eines Verlegers aufgegriffen, der, kurz nachdem er ihn gemacht hatte, nichts mehr von ihm wissen wollte. Alles am „TUMULT“-Magazin ist unwillkürlich…

(Dieser Artikel ist im aktuellen FREILICH Magazin 15 erschienen. HIER BESTELLEN und weiterlesen!)