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Geopolitik: Warum der Bergkarabachkonflikt immer wieder eskaliert

Zwischen Armenien und Aserbaidschan schwelt seit Jahrzehnten der Konflikt um Bergkarabach. Nach dem erneuten Aufflammen der Kämpfe soll über die Auflösung der bewaffneten Kräfte Bergkarabachs verhandelt werden. Fabian Küble analysiert die Hintergründe des Konflikts.

Analyse von
24.9.2023
/
5 Minuten Lesezeit
Geopolitik: Warum der Bergkarabachkonflikt immer wieder eskaliert

Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew und Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan zusammen mit Wladimir Putin

© IMAGO / ZUMA Wire

Aserbaidschan hat am Dienstag erneut die Region Bergkarabach angegriffen, in der je nach Schätzung zwischen 60.000 und 120.000 Karabach-Armenier leben. Nach Angaben des Menschenrechtsbeauftragten der Republik Bergkarabach, Gegam Stepanjan, sollen dabei bis zu 200 Menschen getötet und mehr als 400 verletzt worden sein. Örtliche Behörden berichteten von Raketen- und Artillerieangriffen. Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium nannte den Angriff eine „Antiterroroperation lokalen Charakters zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung“ in der Region.

Bereits am Mittwoch, einen Tag nach Beginn des Angriffs, gab es eine Feuerpause und der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew erklärte den Angriff für erfolgreich beendet. Die Souveränität des Landes sei wiederhergestellt worden, sagte er in einer Rede an die Nation. Nun strebe Aserbaidschan die „friedliche Wiedereingliederung“ des mehrheitlich von Armeniern bewohnten Gebiets in sein Territorium an. Die Behörden in Bergkarabach willigten eine Waffenruhe ein, die auch die Entwaffnung ihrer Kämpfer beinhaltet. Nichtsdestotrotz gibt es immer wieder Berichte über einen Bruch der Waffenruhe durch Aserbaidschan.

Währenddessen evakuierten vor Ort stationierte russische Soldaten ungefähr 5.000 Karabach-Armenier aus besonders gefährdeten Orten. Viele Menschen fürchten jedoch, aus ihrer angestammten Heimat vertrieben zu werden oder zum Ziel systematischer Gewalt durch das aserbaidschanische Regime zu werden, sollten sie bleiben. 

Bereits seit Anfang des Jahres blockierte Aserbaidschan die einzige Verbindungsstraße zwischen Bergkarabach und Armenien. Seitdem hat sich die humanitäre Lage vor Ort immer weiter zugespitzt. So herrscht mittlerweile ein Mangel an Medikamenten und Lebensmitteln, und Brot wird nur noch gegen Bezugsscheine ausgegeben. Unabhängige Beobachter vor Ort beschreiben die Lage als katastrophal. Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, Moreno Ocampo sprach in diesem Zusammenhang bereits von einem Genozid, den Aserbaidschan in Bergkarabach an der dort lebenden armenischen Bevölkerung vollziehe.

Die geopolitischen Prämissen der Region

Aserbaidschan ist mehrheitlich schiitisch und unterhält gute Beziehungen sowohl zur sunnitischen Türkei als auch zum christlichen Georgien. Armenien, das als erstes Land das Christentum zur Staatsreligion erklärte, hat zu den drei genannten Staaten schlechte Beziehungen, dafür aber gute zum schiitischen Iran der Mullahs. Der Iran, auf dessen Territorium mehr Aserbaidschaner leben als in Aserbaidschan selbst, fürchtet wiederum, dass ein starkes und stabiles Aserbaidschan die iranischen Aseris dazu verleiten könnte, sich für ein größeres Aserbaidschan einzusetzen. Eine solche Sezessionsbewegung brächte eine politische Instabilität mit sich, die Teheran nicht akzeptieren kann. Dies sorgt für ein angespanntes Verhältnis zwischen den beiden schiitischen Nachbarstaaten Iran und Aserbaidschan.

Diese Konfliktlinie nützt wiederum Israel aus und unterstützt in dem Konflikt Aserbaidschan. Diesen hat es sogar mit Rüstungsgütern beliefert, um Aserbaidschan in einem möglichen Konflikt gegen den israelischen Erzfeind Iran zu stärken. Die aktuelle militärische Überlegenheit Aserbaidschans gegenüber Armenien rührt auch von der modernen Militärtechnik, die Israel an Aserbaidschan geliefert hat.

Zugleich konkurrieren die Türkei und der Iran um Einflusssphären und Vorherrschaft in der Region. Die Positionierung der beiden Regionalmächte als Kontrahenten und Gegenspieler innerhalb dieses Konflikts lädt diesen damit zusätzlich auch noch zu einem vielschichtigen Stellvertreterkonflikt auf. Die Türkei versucht ähnlich wie Israel, den Rivalen Iran durch eine Stärkung Aserbaidschans zu schwächen. Zugleich haben Armenien und die Türkei seit der Staatsgründung der Türkei ein schlechtes Verhältnis. Den Vorwurf des Völkermordes an den Armeniern weist die Türkei bis heute zurück.

Die geopolitische Lage in der Region ist also mehr als verworren. Aufgrund der unterschiedlichen Interessenlagen bildeten sich zwei „Querfronten“, die sich jenseits der traditionellen religiös-ideologischen Bruchlinien gegenüberstehen. Es geht also vorrangig um Interessen, nicht um Religion.

Wie sich die EU positioniert

Dies scheint bisher auch die Position der EU zu sein, die sich – anders als in der Ukraine – bisher weitestgehend aus dem Konflikt heraushält. Generell hat die EU in dieser Region und speziell diesem Konflikt bisher keine wesentliche Rolle gespielt. So gilt Aserbaidschan wegen seiner Gasvorkommen seit der Verhängung der Sanktionen gegen Russland als einer der Ersatz-Lieferanten für Europa. So kamen vor dem Ukrainekrieg aus Aserbaidschan ungefähr zwei Prozent der Gas- und ungefähr fünf Prozent der Ölimporte. Nach einem mit der EU-Kommission erst im vergangenen Jahr geschlossenen Abkommen sollen die Gasexporte in die EU bis 2027 verdoppelt werden. Des Weiteren wird diskutiert, zukünftig kasachisches Öl- und Gas über das Kaspische Meer und Aserbaidschan nach Europa zu liefern.

Aserbaidschan beliefert bereits heute Italien, Griechenland, Rumänien und Bulgarien. Präsident Alijew hat erst kürzlich mit Ungarns Premier Viktor Orbán ein Abkommen über Gaslieferungen unterschrieben. Die EU betreibt hier also einerseits Interessenpolitik, zugleich aber auch extreme Doppelmoral. Denn während man sich aus angeblich moralischen Gründen von russischem Gas abnabeln will, holt man sich dessen Ersatz bei Leuten wie dem aserbaidschanischen Präsident Ilham Alijew, welcher eine Vernichtungsstrategie gegen die Armenier in Bergkarabach fährt.

Russland versucht sich als Ordnungsmacht

Die bisherige Ordnungsmacht Nummer eins im Südkaukasus war jedoch Russland, das in Armenien auch eine Militärbasis unterhält. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Russland versucht, bei Konflikten in seinem direkten Umfeld, insbesondere zwischen früheren Sowjet-Republiken, zu vermitteln und wenn nötig einzugreifen. Ein Instrument hierfür ist unter anderem die „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS), ein militärisches Verteidigungs- und Beistandsbündnis ähnlich der NATO, welches Russland, sowie einige postsowjetische Staaten umfasst. Armenien ist Teil dieses Bündnisses und hatte daher in den letzten Jahren wiederholt versucht, Russland als Schutzmacht gegen Aserbaidschan zu gewinnen. Doch weitestgehend ohne Erfolg.

Bereits während des 44-Tage-Kriegs 2020 hat sich gezeigt, dass Russland als Verbündeter Armeniens dieser Funktion nicht mehr nachkommt. Denn obwohl Russland entsprechend der Beistandsversprechen Armenien eigentlich hätte militärisch beistehen müssen, antwortete die russische Regierung 2020 nicht auf armenische Forderungen nach Waffenlieferungen und Soldaten. Lediglich bei der Vermittlung des Friedensabkommens kam Russland seiner alten Rolle als Ordnungsmacht der Region nach.

Denn einerseits ist der aktuelle armenische Regierungschef Nikol Paschinjan in Moskau nicht gut gelitten, seit dieser 2018 nach einer von diesem selbst als „Samtene Revolution“ bezeichneten Farbrevolution an die Macht kam. Andererseits hat Russland geopolitische Interessen in der Region, welche auch zu den anderen Konfliktparteien, allen voran Aserbaidschan, aber auch der Türkei, gute Beziehungen erfordern.

So verschieben sich die russischen Interessen im Südkaukasus etwa durch den Ukraine-Krieg und die westlichen Sanktionen: Russland braucht alternative Handelsrouten wie den Nord-Süd-Korridor über Aserbaidschan Richtung Iran und Indien sowie die Türkei als Alternative zur verschlossenen europäischen Route. Das stärkt die Verhandlungsposition Aserbaidschans und der Türkei gegenüber Russland. Die Türkei ist enger Verbündeter Aserbaidschans bei Waffenlieferungen und militärischem Training. Außerdem gibt es enge wirtschaftliche Verbindungen. So ist Aserbaidschan ein wichtiger Lieferant für Gas an die Türkei. Präsident Erdoğan möchte zudem eine größere Rolle im Südkaukasus spielen und nutzt die Schwäche Putins, um seinen Einfluss auszubauen.

Armenien in der Zwickmühle

Anfang dieses Jahres hatte der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan die Sicherheitspartnerschaft mit Russland dann auch in einem Interview als strategischen Fehler bezeichnet und eine im Land geplante Militärübung des OVKS-Militärbündnisses unter der Führung Russlands als zwecklos abgesagt. Er unterstellte, dass Russland aufgrund des Krieges in der Ukraine nicht in der Lage sei, alle Sicherheitsbedürfnisse seines Landes zu erfüllen, und Armenien seine Sicherheit daher auf eine breitere Grundlage stellen müsse. 

Als Konsequenz daraus arbeitet Armenien mittlerweile militärisch auch mit den USA zusammen. So haben die beiden Länder erst vor wenigen Tagen ein gemeinsames Manöver in Armenien abgehalten. Es scheint, als wolle Nikol Paschinjan Armenien zukünftig stärker gegenüber den USA und ihrem westlich-globalistischen System öffnen. So ist Armenien unter seiner Führung jüngst auch dem Internationalen Strafgerichtshof beigetreten, und seine Ehefrau ist demonstrativ nach Kiew gereist. All dies ist in Russland auf erheblichen Unmut gestoßen.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen begrüßte Russland dann auch die im Zuge der Waffenstillstandsverhandlungen angekündigten Gespräche über eine Wiedereingliederung. So sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow: „Zweifellos ist Bergkarabach eine innere Angelegenheit Aserbaidschans“, und „Aserbaidschan handelt auf seinem eigenen Territorium“, das sei auch von der Führung Armeniens anerkannt worden.

Angesichts der Vielschichtigkeit dieses Konflikts muss man davon ausgehen, dass die Situation in Bergkarabach auch weiterhin angespannt bleiben wird. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew scheint es darauf anzulegen, die Region Bergkarabach ein für alle Mal fest ins aserbaidschanische Staatsgebiet zu integrieren – auch gegen den ausdrücklichen Willen der dort lebenden armenischen Bevölkerung. Zugleich sitzt der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan zwischen allen Stühlen und die umliegenden Regionalmächte benützen den Konflikt für ihre eigenen Interessen.

Über den Autor

Fabian Küble

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