Die Herzlandtheorie

Warum sie ein Irrtum ist

In seinem Kommentar erklärt Johannes K. Poensgen, dass wir es erst dann vermeiden können, Mackinders Thesen als stumpfes Dogma zu wiederholen, wenn wir verstehen, wie er zu seinen Thesen kam.

Kommentar von
11.3.2023
/
7 Minuten Lesezeit
Warum sie ein Irrtum ist
Zentralasien© Merikanto, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons (Bild zugeschnitten)

Das ist bemerkenswert. Die Hausliteratur der Neuen Rechten stammt in Deutschland fast ausschließlich aus eigener Feder, allenfalls noch aus der von Kontinentaleuropäern wie Drieu la Rochelle oder Julius Evola, die sich im Zweiten Weltkrieg auf unsere Seite gestellt haben. Der Grund ist simpel: Diese Hausliteratur, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Oswald Spengler, Martin Heidegger, und unzählige kleinere, bildet vor allem anderen ein eigenes, dem Siegernarrativ entgegengesetztes Geschichtsbild. Selbst Heidegger wird auf neurechter Seite vor allem seinsgeschichtlich gelesen. Martin Sellner und Christian Illner haben ihn auf eine Theodizee für 1945 abgefragt.

Dass mit Halford Mackinder (1861–1947) ein Brite – und zwar einer, der nicht nur aus Treue zu seinem Vaterland, sondern aus weltanschaulicher Überzeugung auf alliierter Seite stand – ein Mann, der die Welt „safe for democracies“ machen wollte, in diesen Kanon aufgenommen wurde, ist beachtlich, doch leicht erklärbar. Mit seiner Herzlandtheorie schuf Mackinder einen Referenzrahmen, innerhalb dessen einmal die deutsche Katastrophe analysiert, andererseits auch Handlungsvorgaben für eine Befreiung Deutschlands aus der transatlantischen Bindung abgeleitet werden konnten.

Die Herzlandtheorie ist eine beliebte Erklärung der deutschen Katastrophe

Die Herzlandtheorie, wie sie im heutigen geopolitischen Diskurs spukt, besagt, dass Europa und Asien zusammen die Weltinsel bilden, die den größten und daher potentiell mächtigsten geographischen Block dieses Planeten ausmachen (Afrika kann zur Weltinsel gerechnet werden, ist aber durch die Sahara von Eurasien getrennt). Auf dieser Weltinsel sei Zentraleurasien, hauptsächlich also das heutige Russland, das geographische Herzland. Um dieses Herzland herum liegen noch auf dem eurasischen Kontinent die inneren Randgebiete: Europa, der Mittlere Osten, Indien und China. Diese inneren Randgebiete beherbergen den größten Teil der Weltbevölkerung. Um sie herum liegen die Inseln der äußeren Randgebiete: Britannien, Nordamerika, Südamerika, Japan, Ozeanien und Australien. Gemäß der populären Version der Herzlandtheorie versuchen die Seemächte aus den äußeren Randgebieten das Herzland, also Russland von den inneren Randgebieten abzuschneiden, weil eine geeinte eurasische Landmacht sonst der (angelsächsischen) Seemacht im Kampf um die Weltherrschaft Konkurrenz machen könnte. In diesem Zusammenhang fällt bereits 1904 in Mackinders Aufsatz „The geographical pivot of history“ (Der geographische Angelpunkt der Geschichte) der Satz von einem möglichen deutsch-russischen Bündnis, welches die britische, später amerikanische Weltmacht infrage stellen könnte. Auch die Möglichkeit einer chinesischen Dominanz des Herzlandes wird hier bereits angedacht. Deshalb ist die Herzlandtheorie gerade in Deutschland als Erklärung amerikanischer Politik populär. Vergangenheit und Gegenwart werden gleichermaßen durch die berühmte Formel des ersten NATO-Generalsekretärs Hastings Ismays erklärt: „Die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten halten.“

Inwieweit US-Strategen sich tatsächlich von auf Mackinder zurückgehenden geopolitischen Ideen leiten lassen, ist eine Frage, die hier nicht beantwortet werden kann. Ich habe jedenfalls noch nicht einmal eine klare Antwort auf die Frage gesehen, wie einflussreich die berühmten Ideen Zbigniew Brzezińskis aus seinem oft zitierten Buch „The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“ von 1997 tatsächlich sind. Solche Fragen werden die Historiker wohl erst beantworten können, wenn die Archive geöffnet werden.

Mackinder war Brite und damit zu seiner Zeit Vertreter einer zum Abstieg bestimmten Seemacht.

Was wir aber heutzutage tun können und sollen, ist die Herzlandtheorie Mackinders in ihre eigene Zeit einzuordnen. Erst wenn wir verstehen, wie Mackinder zu seinen Thesen kam, können wir vermeiden, diese Thesen als stumpfes Dogma zu wiederholen, wie es in den meisten der sogenannten geopolitischen Diskurse geschieht. Mackinder entwickelte seine Herzlandtheorie vor allem in zwei Texten: zum einen im bereits erwähnten Aufsatz „The geographical Pivot of History“ von 1904 und zum anderen in einem Buch namens „Democatic Ideals and Reality“ von 1919. Zwischen beiden liegt der Erste Weltkrieg und „Democratic Ideals and Reality“ fällt in eine besonders interessante Zeit, weil es nach dem Waffenstillstand, aber noch vor dem Diktat von Versailles geschrieben wurde. Mackinder befürchtet, die Briten könnten sich auf zu weiche Friedensbedingungen einlassen. Dadurch könnten die Landmächte, welche für Mackinder hier identisch mit der Autokratie sind, erneut die Seemächte bedrohen, welche er mit der Demokratie identifiziert.


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Mackinder deutet das Jahr 1917 als eine „Reinigung“ [sic! Er gebraucht das Wort „purified“.] des Ersten Weltkrieges, weil durch die Revolution das zaristische Russland aus der Entente ausgetreten, die demokratische Seemacht Amerika jedoch in den Krieg eingetreten ist. Von dort an ist ihm der Krieg ein Kampf der Demokratie gegen die Autokratie und gleichzeitig der Seemacht gegen die Landmacht. Mackinder, wie viele Angehörige der britischen Elite jener Zeit, lügt sich über die Situation der britischen Seemacht in die Tasche. Er will nicht sehen, dass nicht Deutschland oder Russland das Empire gefährden, sondern dass die Vereinigten Staaten den Untergang der britischen Seeherrschaft bereits durch ihre bloße Existenz besiegeln. Das britische Empire ging verloren, als 1865 der Sezessionskrieg mit der Wiedereingliederung der Konföderierten in die Vereinigten Staaten endete.

Wenn ich sage, dass Mackinder sich selbst und seine Leser belügt, dann deshalb, weil die Schlussfolgerung, dass die USA England ablösen werden, aus seinen eigenen Überlegungen zu den Grundlagen von Seemacht glasklar hervorgeht. Nach Mackinder beruht Seemacht auf einer Heimatbasis, die einerseits von Land her schwer zu bedrohen ist, also idealerweise eine Insel, die aber gleichzeitig die nötigen Ressourcen für den Aufbau einer Flotte bereitstellt. Dass der nordamerikanische Kontinent, solange dort nur eine bedeutende Macht existiert, den britischen Inseln in beiden Punkten weit voraus ist, ist offenkundig.

Mackinder unterlief eine fundamentale Fehldeutung der Weltkriegsära, indem er sie als Kampf der demokratischen Seemächte gegen die autokratischen Landmächte darstellte. Er sah nicht oder wollte nicht sehen, dass die kontinentale Seemacht USA keineswegs gegen die kontinentale Landmacht Russland, später Sowjetunion kämpfte, sondern beide zusammen die Welt unter sich aufteilten, wobei die bisherigen Großmächte, deren Ressourcenbasis zu klein für die neuen Dimensionen der Welt waren, als Vasallenstaaten eingegliedert wurden, egal ob sie auf der Sieger- oder der Verliererseite der Weltkriege standen.

„Democratic Ideals and Reality“ ist übrigens schon deswegen interessant, weil es zeigt, wie ein gebildeter Brite damals Deutschland sah. „Kultur“, Mackinder benutzt für dieses Wort immer die deutschen Schreibweise, ist ihm der Inbegriff des Materialismus, eines amoralischen Zweck-Mittel-Denkens reiner Organisatoren demgegenüber der demokratische Idealismus die Rechte des Menschen berücksichtigt, anstatt den Menschen zum Mittel der Organisation zu degradieren.

Die Herzlandtheorie beruhte auf Spekulation über Bevölkerungsentwicklung und zukünftige Technologien

Doch warum glaubte Mackinder, dass das Herzland Zentraleurasiens auf einmal eine solche Bedrohung darstellte? Um ihn zu verstehen, müssen wir erst einmal die Geschichte der Geschichtswissenschaft kennen. Zu Mackinders Zeiten beginnt sich die europäische Geschichtsschreibung von den Scheuklappen der eigenen Tradition zu lösen. Bis dahin bestand das Geschichtsbild aus Juden, Griechen und Römern, um schließlich im Abendland zu enden. Kurz: Weltgeschichte war identisch mit der Erzählung der eigenen Kultur. Nun blickte man darüber hinaus. Dabei begriff man auch zum ersten Mal die Bedeutung der innerasiatischen Steppe mit ihren Reitervölkern für den Verlauf der Weltgeschichte. Mackinder beschäftigte sich ausgiebig mit diesem schon zu seiner Zeit der Vergangenheit angehörenden Phänomen.

Er erklärte die Reitervölker des Herzlandes dadurch, dass dieses Herzland, anders als die inneren Randgebiete Europas und Ostasiens nicht durch Flusssysteme von See aus zu durchdringen waren. Das Herzland war vom Verkehr abgeschnitten und deshalb nur dünn von Nomaden besiedelt. Mackinders entscheidende Überlegung war nun diese: Durch die Fortentwicklung der Transporttechnologie, vor allem der Eisenbahn, würde dieses gewaltige Gebiet nun erschließbar und dies würde dazu führen, dass dort eine ähnliche Bevölkerungsdichte und Rohstoffausbeutung entstehen würde, wie in den inneren Randgebieten. Wir dürfen hier zweierlei nicht vergessen: Dass sich Russland damals noch in jener Phase des Überganges von der Agrar- zur Industriegesellschaft befand, in der die Bevölkerung sprunghaft anstieg und andererseits, dass man zu Mackinders Zeiten diesen demographischen Übergang nicht verstand. Man glaubte, das werde in Russland dauerhaft so weitergehen. Den Geburtenrückgang in weiter entwickelten Ländern, wie England und Frankreich erklärte man mit einer Degeneration des Nationalcharakters.

Doch auch in anderer Hinsicht müssen wir heute feststellen, dass sich Mackinder geirrt hat. Weder Eisenbahn noch Lastkraftwagen haben die massiven Preisvorteile des Seetransportes gegenüber dem Landtransport aufgehoben. Das beste Beispiel liefert in jüngster Zeit die Volksrepublik China, deren Entwicklung aus logistischen Gründen von den Küstenstädten ins Landesinnere fortschreitet. Eine der großen Drohungen der US-Navy gegenüber China besteht in der Unterbrechung des innerchinesischen Warenverkehrs, welcher zwischen den Küstenstädten zum Großteil auf dem Seeweg verläuft.

Zentralasien und Russland sind allein aufgrund ihrer gewaltigen Ausdehnung Rohstoffgebiete von erstrangiger Bedeutung. Ein Herzland, an welchem sich die Weltgeschichte entscheidet, bilden sie jedoch ganz gewiss nicht. Ob amerikanische Strategen sich tatsächlich von der Herzlandthese leiten lassen und nicht vielmehr die weit realistischere chinesische Bedrohung amerikanischer Weltherrschaft eindämmen wollen, kann ich nicht sagen. Sollten sie sich von Mackinder leiten lassen, dann unterlägen sie einem zum Dogma erhobenen Irrtum, der zu seiner Zeit verständlich war, aber heute als längst widerlegt gelten muss. Es gibt nicht den geringsten Grund, warum deutsches Denken sich mit falschen Hoffnungen und absurde Planspiele an dieses Dogma klammern sollte.


Zur Person:

Johannes K. Poensgen, geboren 1992 in Aachen, studierte zwei Semester Rechtswissenschaft in Bayreuth, später Politikwissenschaft und Geschichte in Trier. Erreichte den Abschluss Bachelor of Arts mit einer Arbeit über die Krise der Staatsdogmatik im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Befasste sich vor allem mit den Werken Oswald Spenglers und Carl Schmitts.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.