Die Rückkehr des Tages X

In seinem Kommentar hält Johannes K. Poensgen fest, dass ein Tag-X, ausgelöst durch eine Systemkrise, die außerhalb der Kontrolle politischer Dissidenten liegt, in Europa heute wahrscheinlicher ist als jemals seit dem Zweiten Weltkrieg. Ob er kommt, liege aber nicht in der Hand der Rechten, sondern in der der jetzigen Eliten.

Kommentar von
12.1.2023
/
8 Minuten Lesezeit
Die Rückkehr des Tages X
Symbolbild© flickr CC BY 2.0

Das Wort „Krise“ wird seit 2007, seit der „Finanzkrise“, für alles Mögliche gebraucht. Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Coronakrise, Energiekrise. Man würde wohl auch den Krieg in der Ukraine eine „Krise“ nennen, wenn dieser Ausdruck angesichts von hunderttausend Toten nicht einen verharmlosenden Drall hätte.

Der große Krisenprofiteur jener Jahre war die Rechte – aus zwei Gründen: Erstens ist die Rechte der Buhmann des herrschenden Systems. Als solchem fällt ihr fast automatisch die Rolle der glaubwürdigen Fundamentalopposition in den Schoß. Zum Zweiten ist sie zwar nicht die einzige Kraft, die grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten mit den gegenwärtigen Eliten hat, aber sie ist die einzige, die Strukturen unabhängig von der jeweils aktuellen Krise vorzuweisen hat. In der internen Auslese oppositioneller Gruppen hat die Rechte daher bis jetzt immer den längsten Atem gehabt.

Bemerkenswert ist jedoch, dass die Rechte auf einmal nichts zu sagen hat. Paradoxerweise, obwohl sie heute größere Chancen hat, an die politische Macht zu gelangen, als jemals zuvor. Trotzdem fällt ihr jede eigene Deutung der Ereignisse jenseits stumpfem Für oder Gegen Putin schwer. Der Ernstfall erwischt die Rechte auf falschem Fuß. Nach einem Jahrzehnt der Metapolitik liegt er außerhalb des begrifflichen Horizonts.

Wir haben uns an die Folgelosigkeit gewöhnt

Was wir momentan erleben, ist das Gegenteil der Art Krise, an die wir uns im letzten Jahrzehnt gewöhnt haben. Eurokrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise, all das waren in der unmittelbaren Wirkung bloß metapolitische Ereignisse. Zwar geschah etwas, aber keine dieser Krisen brachte die Kernstaaten der westlichen Welt auch nur annähernd ins Wanken. Randstaaten wie Griechenland konnten aufgefangen werden. Dissidente und halbdissidente Sachkundige sagten zwar stets voraus, dass diese Ereignisse fürchterliche Folgen haben würden. Doch das blieben Kassandrarufe.

Die Sachkundigen mögen Recht behalten. Vielleicht erleben wir in näherer Zukunft erst das volle Ausmaß der Dotcomblase. In den vergangenen zehn, eher zwanzig Jahren gelang es aber immer die Dinge für den Moment zu regeln. Rettungspakete für Banken und Staaten wurden geschnürt, Geld gedruckt, Flüchtlingsunterkünfte aus dem Boden gestampft, Coronahilfen verteilt. Es ging nicht gut, aber es ging.

Wichtig aber: Politische Fehlentscheidungen hatten keine unmittelbaren systemischen Folgen. Selbst die Coronamaßnahmen, so hart sie ins Leben schnitten, blieben in der Sphäre des Medialen. Es war sehr schnell klar, dass die Opferzahlen von Virus wie Impfung zu gering sein würde, um nicht wegzuleugnende Tatsachen zu schaffen. Alles blieb im Bereich des medial beliebig Manipulierbaren. Vom schwedischen bis zum neuseeländischen Ansatz wurden alle möglichen Reaktionen auf das Coronavirus durchexerziert und jede Regierung kann sich heute auf den Standpunkt stellen, alles richtig gemacht zu haben, ohne sich angesichts harter Tatsachen der Lächerlichkeit preis zu geben.

Heute streiten sich eine Handvoll Leute, für die sich schon keiner mehr interessiert, darum, wie nun diese oder jene Übersterblichkeit zu werten sei und einige hundert Impfgeschädigte klagen auf die Anerkennung irgendwelcher Ansprüche.

Statistik, die unter Stalins kaltes Diktum fällt.

Die bedeutende Wirkung dieser Kette von Krisen war, dass jedes Mal die ideologische Verblendung der herrschenden Eliten sichtbar wurde, jedes Mal neue Lügengebäude errichtet wurden, jedes Mal aber auch mehr Menschen sich vom politischen System und seinem medial konstruierten Konsens entfremdeten. Weil nichts direkt spürbare Folgen hatte, konnten die Angehörigen verfeindeter politischer Lager überhaupt erst so tun, als bewegten sie sich in unterschiedlichen Realitäten.

Deshalb: Die Krisen der 10er-Jahre waren mehr metapolitische Ereignisse, als sonst irgendwas. Die Rechte, vor allem die Neue Rechte mit ihrer Fokussierung auf metapolitische Arbeit, Ideenpolitik und dem Kampf um die Köpfe schwamm in dieser Welt des Symbolischen und des Virtuellen wie der Fisch im Wasser.

Im Krieg starb die Lüge zuerst

Niemand wird behaupten, dass der Krieg in der Ukraine ohne handfeste Folgen geblieben sei. Mit ihm kehrte die Unmittelbarkeit in die Politik zurück. Die Ereignisse haben Konsequenzen unabhängig von der Propaganda.

Zum Verständnis: Wäre während der Flüchtlingskrise Aylan Kurdis Leiche nicht am Strand fotografiert worden und wäre dieses Bild nicht durch alle Medien gegangen, dann hätte sein Tod außer der Trauer der Angehörigen keinerlei Folgen gehabt. Über die Kämpfe bei Butscha und Cherson hingegen könnte völlige Informationssperre verhängt werden, ihr Ergebnis würde dennoch über den Kriegsverlauf entscheiden.


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Dass Krieg, aber auch Sanktionen, direkte Folgen haben, hat den Raum medialer Virtualität aufgesprengt. Vergleicht man pro-russische und pro-westliche Berichterstattung, dann schieben sie sich gegenseitig Kriegsverbrechen zu und beide Seiten behaupten, dass sie am Ende siegreich sein werden. Doch ihre Karten sind nahezu identisch. Sie berichten über dieselben Raketenangriffe. Ein Vormarsch der einen Seite wird von der anderen in seiner Bedeutung heruntergespielt, aber nicht bestritten. Abseits der Frontlinie fordern Regierungen ihre Bürger zum Energiesparen auf. Man denkt öffentlich über Rationierung nach. Selbstverständlich, Spin und Propaganda sind in reichem Maße vorhanden. Aber nicht die Parallelwelten der Einwanderungs- oder Coronathematik.

Im Krieg starb, überraschend, die Lüge zuerst und die lange ignorierbare Wirklichkeit forderte wieder ihr Recht. Die metapolitische Rechte tut sich hier schwer. Nicht weil es ihr an Gebietskörperschaften (HC Strache) mangelt, das Klein-Klein der Parlamentspatrioten ist völlig in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, sondern weil sie es nicht mehr mit der Gletscherbewegung des öffentlichen Bewusstseins zu tun hat, sondern mit entscheidenden Ereignissen.

Als oppositionelle Bewegung steht sie diesen Ereignissen vor allem passiv gegenüber. Die Rechte hat mediale und metapolitische Machtmittel, aber keine Amts- und Befehlsgewalt. Auf die entscheidenden Punkte kann sie gar nicht einwirken.

Wieder ein Vergleich: Als vor einem Jahr eine deutschlandweite Impfpflicht drohte, gingen Montag für Montag zehntausende Menschen im ganzen Land auf die Straße. Alternative Medien protestierten auf allen Kanälen, die nicht der Zensur zum Opfer fielen. Diese Proteste waren das Kernstück der politischen Auseinandersetzungen. Ihnen ist es zu verdanken, dass sowohl die deutsche, als auch die österreichische Regierung die allgemeine Impfpflicht so leise wie möglich in der Versenkung verschwinden ließen.

Wenn man heute gegen die Russlandsanktionen oder gegen die NATO-Bindung auf die Straße geht, dann befindet man sich sprichwörtlich auf einem Nebenkriegsschauplatz. Ob es überhaupt sinnvoll und nicht vielmehr schädlich ist, hängt vom Erfolg russischer Truppen auf dem Schlachtfeld ab (Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass die Unterstützung der ukrainischen Sache derselben Logik unterliegt und darüber hinaus zum Burgfrieden mit dem Establishment führt, großer Austausch hin oder her.) Die Rechte ist also im Moment nicht in der Position, großen Einfluss zu nehmen. Das ist das Eine.

Die strategische Linie der neuen Rechten stammt aus einer Kritik am „Tag-X-Denken“

Zum anderen ist die Rechte von ihrer strategischen Doktrin her nicht auf eine Situation vorbereitet, die von harten Tatsachen und nicht vom medialen Bild bestimmt wird. Weil die westlichen Regierungen in der Vergangenheit jedes Problem unter den Teppich kehrten, jedes Versagen mit neuem Geld zuschütten konnten, hat die Rechte sich nach erheblichen inneren Kämpfen zu einer metapolitischen Gesamtstrategie durchgerungen. Es gab zwar bei jeder neuen Krise die Leute, die eine baldige Wende durch den Druck der Straße oder gar die nächste Wahl erwarteten, doch hier sprach die Unerfahrenheit. Alle Akteure, die länger blieben, stellten sich auf einen zähen Kampf um die Verschiebung des Overton-Fensters ein.

Wer auf plötzliche Wendungen hoffte, wurde verspottet. Es entstand ein ganzes Subgenre neurechter Strategiepapiere, die sich mit einer Kritik des „Tag-X-Denken“ befassten. Gegenstand der Kritik war ein Denken, dass eine politische Wende nicht durch metapolitische Arbeit erreichen wollte, sondern darauf bestand, dass diese erst durch einen Zusammenbruch des herrschenden Systems erfolgen könne. Dieser Zusammenbruch sollte im Tag-X-Denken als Ergebnis eines Funktionsversagens des herrschenden Systems erfolgen, also von etwas, was die Rechte selbst gar nicht beeinflussen konnte – sei dieses Funktionsversagen nun der Staatsbanktrott oder Massenunruhen der Migranten. Darin unterschieden sich die verschiedenen Tag-X Szenarien.

Die neurechte Kritik am Tag-X betraf dann auch vor allem die dadurch geförderte Passivität. Man wusste zwar, dass man in der Politik direkt auf absehbare Zeit nichts erreichen konnte, fühlte sich aber verpflichtet, die verbliebenen metapolitischen Möglichkeiten zu nutzen, um eines Tages wieder eine rechte Politik möglich zu machen.

Nach zehn Jahren muss man dieser metapolitischen Arbeit einen Erfolg und einen Misserfolg anrechnen. Der Erfolg ist der Aufbau eines rechten Lagers jenseits des nach dem Zweiten Weltkrieg dominant gewordenen Sektierertums. In Deutschland, den meisten europäischen Ländern und übrigens auch den Vereinigten Staaten wurde eine politisch relevante Rechte jenseits cuckservativer Ausverkäufer überhaupt erst geschaffen. Bei diesem Aufbau haben sich die Handelnden nicht zu schmälernde Verdienste erworben.

Revolutionäre machen keine Revolution

Die politische Wende durch Verschiebung des Overton-Fensters ist hingegen sehr eindeutig nicht geglückt. Die politischen Systeme des Westens erwiesen sich als fähig, sich an die Existenz der Rechten in Parteien und Medien anzupassen und Mittel der Repression zu finden, die die Opposition schädigen, ohne von dieser medial nutzbar zu sein.

Hier steht die Rechte vor der alten Erkenntnis, dass noch keine Revolution durch die Revolutionäre herbeigeführt wurde. Die scheinbare Ausnahme sind die „Farbenrevolutionen“, in denen Einflussagenten wesentlich mächtigerer Staaten die unliebsame Regierung eines kleinen Landes austauschen ließen. Ausschlaggebend für eine Revolution war immer eine Systemkrise, die außerhalb der Kontrolle politischer Dissidenten lag.

Ein solcher Tag-X ist heute in Europa wahrscheinlicher als jemals seit dem Zweiten Weltkrieg. Ob er kommt, liegt nicht in unserer Hand, sondern in der unserer jetzigen Eliten. Sollte er kommen, dann müssen wir der Versuchung widerstehen, ihn als verdienter Mühen Lohn zu betrachten, und die Mobilmachung mit dem Sieg zu verwechseln. Ob die Rechte ein tragfähiges politisches Modell anzubieten hat und ob sie zu einer politischen Strategie fähig ist, wird sich erst dann zeigen.

Es droht die Gefahr einer Reihe an die Macht gespülter rechter Regierungen, die Donald Trump als Ausbund an Zielstrebigkeit und Prinzipienfestigkeit erscheinen lassen würden.


Zur Person:

Johannes K. Poensgen, geboren 1992 in Aachen, studierte zwei Semester Rechtswissenschaft in Bayreuth, später Politikwissenschaft und Geschichte in Trier. Erreichte den Abschluss Bachelor of Arts mit einer Arbeit über die Krise der Staatsdogmatik im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Befasste sich vor allem mit den Werken Oswald Spenglers und Carl Schmitts.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.