Heins „Das Narrenschiff“: Sinkende Staaten und Schiffe
Zwischen Machtapparat und Menschlichkeit erzählt Christoph Hein von Figuren, die sich durch die Risse eines untergehenden Staates bewegen. Für Kevin Naumann eine schonungslose Erzählung im Spannungsfeld von Ideologie und Alltag.
Es war der Versuch, die Zeit anzuhalten. Anders lassen sich Utopien nicht erzählen, geschweige denn verwirklichen. Manche überdauern als Märchen die Zeiten, andere, wie die Deutsche Demokratische Republik, scheitern nach 41 Jahren. Die Kapsel aus Beton und Stahl, aus Kaderpartei und Planwirtschaft, in die man die Idee eines sozialistischen Staates und mit ihr 16 Millionen Menschen gezwängt hatte, zerbrach schließlich an den Gesetzen von Mensch, Natur und Wirtschaft. Und an der beginnenden weltpolitischen Neukalibrierung, die sich am Ende einer Epoche wähnte. Das Jahr 1989 markiert nicht nur das Ende der DDR als Lebenswirklichkeit, sondern auch einen vielschichtigen weltpolitischen Umbruch. In den Nachwelten dieses Umbruchs leben wir heute. In den Übergängen und kulturellen Resonanzen der Systeme, wie damals, als ein Volk – und das heißt auch: individuelle Biografien – von der Niederlage des Nationalsozialismus in die beiden deutschen Teilungen, den amerikanisch-westlichen oder sowjetisch-östlichen Neuanfang und die der letzten 35 Jahre übergehen musste.
Mit Das Narrenschiff legt Christoph Hein nun eine Chronik der Brüche, Übergänge, Auf- und Abstiege, Überzeugungen und Menschlichkeiten auf dem Territorium der Utopie DDR vor.
Die Szene: Ein Schiff, ein Staat
Hein zeichnet sie nicht als Ungeheuer, die Narren, die sein Schiff bemannen. Keine Dämonen, keine Heiligen. Menschen, die zwar fest an die Idee des Staates glauben, aber auch stolpern, hoffen, lügen, um zu überleben. Goretzka, Emser, Kathinka, das sind die Namen, wie Splitter eines Mosaiks, das zerbricht, bevor es vollendet ist.
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Heins Sprache ist trocken, staubig. Kein Schmuck, kein Fett. Es ist die des Chronisten, der aus eigener Erfahrung weiß, dass es die eine Wahrheit nicht gibt. Und doch liegt in dieser Nüchternheit eine Kraft. Man liest, und die Jahre der DDR ziehen vorbei: 1953, das Knirschen der Panzer; 1961, der Beton, der die Stadt teilt; 1989, die Menge, die ihre Mauern einreißt. Hein bannt die Zeit selbst in Zeilen, ohne sie zu verklären, und manche Passagen wirken wie eine Abrechnung mit der Zeit. Das ist seine Stärke – und seine Schwäche. Denn wo bleibt das Fieber, das Blut, das die Figuren atmen lässt? Sie bleiben Schemen, Schatten auf einer Leinwand, bewegt von der Geschichte, nicht von sich selbst. Wo andere aufblühen und abstürzen, verharrt Hein in Szenen der Intimität und der Erregung des nüchternen Protokollanten. Gewöhnungsbedürftig ist nur seine eigenwillige Schreibweise der Jahreszahlen („neunzehnhundertachtundsechzig“).
Heins Stil ist das Skalpell, nicht der Pinsel. Er malt nicht, er schneidet. Als auktorialer Erzähler thront er über dem Geschehen, distanziert, unnahbar. Man sehnt sich nach dem Chaos, nach dem Sturm, der die Figuren erfasst, sie zerreißt. Doch Hein verweigert sich, es wäre ein ganz anderes Buch geworden. Sein Narrenschiff ist kaum Drama, kaum Epos. Es ist ein Bericht aus dem Maschinenraum der Geschichte. Und vielleicht ist gerade das seine Größe: die Verweigerung des Gefühls und die Nüchternheit, eine Kälte, die uns zwingt, selbst zu fühlen, wo er nicht spricht.
Im Vergleich zu Tellkamp, der in Der Turm die DDR wie ein barockes Gemälde ausbreitet, oder zu Ruge, der in In Zeiten des abnehmenden Lichts die Melancholie einer Familie destilliert, verführt Hein nicht, er betört nicht, er schmückt nichts aus. Er zeigt.
Der Narr: ein Porträt
Wer ist der Narr? Der Kommunist, der an die große Idee glaubt, während die Wirklichkeit ihn verhöhnt? Der Beamte, der seine Seele für einen Schreibtisch verkauft? Oder die Jugend, die sich gegen die Väter auflehnt, nur um in neue Fesseln zu geraten? Das Totschlagargument Parteiauftrag schafft oft die absolute Realität, der niemand zu entkommen vermag. Hein zeigt seine Figuren, ohne sie zu verurteilen. Das ist das Unheimliche und Besondere an seinem Buch: Es verweigert die Moral, die wir so gerne über die Geschichte legen. Die heutige Literatur zeichnet sich oft durch übertriebene Besserwisserei und Übermoral aus. Geschichten, erzählt von Nachgeborenen, die sich als Stellvertreter und Richter über nie erlebte Zeiten und nie gekannte Menschen aufschwingen, haben Hochkonjunktur, werden prämiert für besonders zuverlässige Einordnungsarbeit aus vorbildlich demokratischer Perspektive. Doch die DDR: Sie war kein schwarzes Loch, kein Reich des Bösen. Sie war ein Versuch, der scheiterte, weil Menschen eben Menschen sind – fehlbar, schwach, getrieben von Gier und Angst.
Und doch glimmt inmitten dieser Kälte etwas. Kathinka, die Tochter, die sich losreißt, die die Enge der Ideologie sprengt. Sie ist kein Held, keine Jeanne d’Arc. Sie ist ein Mensch, der atmet und zweifelt. In ihrer Beziehung spiegelt sich Hein selbst, der Chronist, der sich als Rudolf Kaczmarek ins Buch schreibt, Hein war dabei und hat das Geschilderte selbst erlebt.
Das Schiff sinkt
Das Schiff sinkt nicht mit Getöse, nicht mit Flammen. Es sinkt leise, fast unbemerkt, wie ein Traum. Die DDR ist weg, und doch ist sie da, in den Köpfen, in den Narben. Heins Narrenschiff ist kein Abgesang, kein Requiem. Es ist ein Spiegel, den er uns vorhält. Was sehen wir darin? Den Narren, der glaubt? Den, der schweigt? Oder den, der schreibt, weil Schreiben das Einzige ist, was bleibt?
Heute knirscht die Welt weiter. Die Sprache bleibt. Und Hein, der Chronist, hat seinen Teil dazu beigetragen. Er hat die Zeit in Zeilen gebannt, nicht um sie zu retten, sondern um sie zu verstehen und uns, die wir nach ihm kommen, verständlich zu machen. Ein wichtiges und glaubwürdiges Zeugnis.
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