Die Nibelungen neu entdeckt: Thomas Fernandez’ Mittgart-Saga
Die „Thron Mittgarts“-Reihe entführt den Leser in eine brutale, aber faszinierende Welt voller Helden, Intrigen und germanischer Traditionen. Die Geschichten um den Göttersohn Sigi und seine Nachkommen lassen das frühe 3. und 4. Jahrhundert eindrucksvoll auferstehen.
Auf die Frage, was ein gutes Buch ausmacht, kann man Tausende von Antworten geben, aber keine ist letztlich richtig. Ist ein Buch automatisch gut, nur weil man es in kurzer Zeit liest? Oder weil es einen in den Bann schlägt, egal, ob man nur eine Seite oder einhundert liest? So oder so haben die beiden bislang erschienenen Bände der „Der Thron Mittgarts“-Reihe von Thomas Fernandez einen starken Eindruck hinterlassen. Der Versuch, „Mythos und Historie zu vermählen“, wie der Autor seinen Nibelungenroman einleitet, erinnert eher an eine Mischung aus Homer und Tolkien als an Hans Friedrich Blunck oder Will Vesper. Das ist zunächst weder Lob noch Kritik, sondern eher eine Einschätzung, die davon abhängt, ob man diesen charakteristischen, weit ausholenden Schreibstil als faszinierend oder ermüdend empfindet.
Mythos trifft Historie – die Erzählwelt Mittgarts
Die Bezeichnung „Nibelungenroman” trifft auf die Werke aus der Feder Fernandez' nur bedingt zu. Denn die Handlung der beiden Bücher spielt nicht im 5. Jahrhundert nach Christi Geburt, das häufig als historischer Ursprung angenommen wird, sondern beginnt im frühen 3. Jahrhundert und erstreckt sich über die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts. In den Wirren des von allen Seiten bedrängten Römischen Reichs und dem Streben zahlloser germanischer Stämme nach Westen und Süden wird der Leser Zeuge des Anfangs ebenjener Blutlinie, die mit dem Helden Siegfried ihren End- und Höhepunkt findet. Der erste Band „Aus den Nebeln Mittgarts“ verfolgt das Schicksal des Sigi, der von allen als Sohn Odins anerkannt wird. Der zweite Band „Wellenpferde“ widmet sich seinem Sohn Rerir und seinem Enkel Walisunc. Die Handlung kennt ihre Höhen und Tiefen, Triumphe und Niederlagen – ein historischer Roman durch und durch.
Epische Breite und sprachliche Wucht
Die Geschichten um die Franken an der Grenze zum zerbröckelnden Reich hatten jedoch eine eigenartige Wirkung: Anders als bei den meisten Büchern legte ich dieses immer wieder zur Seite und las teils nur wenige Seiten auf einmal, sodass sich die Lesedauer erheblich verlängerte. Doch trotz der zahllosen Namen, Ereignisse und Perspektivwechsel wusste ich meist bereits nach wenigen Zeilen, an welchem Punkt der Handlung ich wieder eingestiegen war. Ein großer Teil des Lesevergnügens lag in der Art und Weise begründet, wie Fernandez seine Geschichte strukturiert und Sprache verwendet.
Die großen Kämpfe wechseln sich mit der Beschaulichkeit des Lebens in der Frühzeit unseres Volkes ab – Leid und Freude wechseln sich in so vielen Spielarten ab, dass man immer wieder in diese brutale, aber wohl auch ehrlichere Welt hineingesogen wird. Durch die zahlreichen germanischen Begriffe, Sitten, Lieder und Sinnsprüche, die Fernandez aufgreift und geschickt in die Handlung einwebt, erwacht eine stilisierte, aber nicht minder reale Vergangenheit zum Leben. Dank eines strukturierten Anhangs mit Stammbäumen, Karten und Begriffserklärungen können auch Laien diese Detailverliebtheit genießen – eine mittlerweile seltene Annehmlichkeit.
Eine eigenständige, packende Adaption
Was bedeutet die Bearbeitung des Nibelungenmythos für den Stoff, den Friedrich der Große als „nicht einen Schuss Pulver wert“ bezeichnete? Man darf keinesfalls erwarten, einen dem Epos ebenbürtigen Nachfolger serviert zu bekommen, und auch auf die künstlerische Stufe von Homer oder J. R. R. Tolkien, die Fernandez bewundert, schafft es der Autor wohl nicht. Entzieht man das Werk jedoch solchen unfairen Vergleichen, klärt sich der Blick, und die ersten beiden Bände der „Der Thron Mittgarts“-Reihe erweisen sich als ordentliche Nibelungen-Adaption und ganz ausgezeichnete historische Erzählung.