Auszug aus dem Interview mit Julien Rochedy: „Die Massen zählen wenig“

Der Autor Julien Rochedy spricht im FREILICH-Interview über die Philosophie Friedrich Nietzsches und warum sie noch nie so zeitgemäß war wie heute.

Interview von
28.10.2023
/
7 Minuten Lesezeit
Auszug aus dem Interview mit Julien Rochedy: „Die Massen zählen wenig“
Julien Rochedy© Rochedy

FREILICH: Sehr geehrter Herr Rochedy, in Ihrem letztes Jahr auf Deutsch erschienenen Buch „Nietzsche – der Zeitgemäße“ erzählen Sie davon, wie die Nietzsche-Lektüre Ihre Jugend und Ihr Leben geprägt hat. Sie nennen diesen Moment „eines der bedeutsamsten Ereignisse“ ihres Lebens. Was genau hat Nietzsche in Ihnen berührt? Was genau hat sich damals geändert?

Julien Rochedy: Mein Vater pflegte zu sagen, dass man sich ein Buch nicht aussuchen kann: Es ist das Buch, das einen auswählt. Als Teenager, der gegen die Gesellschaft rebellierte, war ich die perfekte Zielscheibe für ein so subversives Buch wie die Genealogie der Moral. Nachdem ich es gelesen hatte, schien es mir, als würde ich die Welt nie wieder auf dieselbe Art und Weise betrachten können. Meine gesamte Lesart von Werten war auf den Kopf gestellt. Die „Moral“, mit der ich gefüttert worden war, zerfiel angesichts der Entdeckung der psychologischen Mechanismen, die ihrer Entstehung zugrunde lagen. Bis dahin hatte ich tief in meinem Inneren gespürt, dass etwas nicht stimmte. Ich war ein lebenslustiger, stolzer und ungestümer junger Mensch; ich verstand nicht, warum man von mir ständig verlangte, tolerant, gemäßigt, friedlich und zerknirscht zu sein. Die Kraft, die ich in mir spürte, wollte sich ausdrücken und ich verdächtigte die Gesellschaft, sich gegen sie verschworen zu haben. Alles sollte klein, niedrig, mittelmäßig, volkstümlich sein; ich sollte mich als junger Mann, als Franzose, als Weißer, als Heterosexueller, als Dominanter für mich schämen. Aber warum? Und plötzlich lehrte mich Nietzsche, dass all diese moralischen Anordnungen, denen ich unterworfen war, ganz sicher nicht von einer „höheren Moral“ herrührten; keinesfalls vom „Guten“ und „Wahren“ oder von irgendeiner „Freundlichkeit“ oder „edlen Gesinnung“. Stattdessen stammten diese Werte von Sklaven, Versagern und „Wesen des Grolls“, die sich am Leben, an der Macht und an den Edlen rächen wollten. Diese Menschen und ihre Moral hatten triumphiert und führten zu einem allgemeinen und systemischen Nihilismus. Ich verstand also, dass das, was mich persönlich behinderte, auch das war, was meine Zivilisation zerstörte. Von da an veränderte ich mich für immer. Ich würde mir wünschen, dass diese Nietzschesche-„Initialzündung“ in jedem jungen Menschen stattfindet, in jedem „Guten Europäer“, wie Nietzsche sie nannte. Aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben.

Wie würden Sie persönlich nach diesem Erweckungserlebnis die Philosophie Nietzsches charakterisieren?

Die Philosophie Nietzsches hat mehrere Aspekte. Zunächst einmal war sie für mich eine Lesart der Welt durch das Prisma der Werte. Was gehört in der Welt zur Sklavenmoral und was zur aristokratischen Moral? Woher kommen diese verschiedenen Moralvorstellungen und was sagen sie über die Individuen und die Gesellschaften aus, die sie fördern? Nietzsches Philosophie ist Psychologie gepaart mit Biologie. Sie lehrt uns zu beobachten, was sich hinter den Ideen verbirgt. Es gibt immer ein Wer und ein Was, das es in Konzepten, Systemen, Werten und Moral zu entdecken gilt. Alle intellektuellen Produktionen sind individuelle Symptome. Individuen sind im Wesentlichen Körper, deren Kraft nach Ausdruck sucht. Doch Schwäche kann die Art und Weise, wie sie ihre Kraft ausüben, korrumpieren und vergiften. Manche dienen dem Leben, andere versuchen, ihm zu schaden. Nietzsches Philosophie ist daher eine Ethik, die Julius Evola als radikalen Aristokratismus bezeichnete. Diese Ethik stützt sich jedoch auf eine tiefe Metaphysik: die des Willens zur Macht und der Ewigen Wiederkehr. Es ist spannend, sie zu studieren, da sie ziemlich klar mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Natur der Existenz übereinstimmt, wie zum Beispiel mit denen der Thermodynamik. Für diese letzte Disziplin ist das Leben eine energiedissipative Struktur: Alles, was lebt, strebt danach, diese Dissipation zu maximieren. Dies ist mehr oder weniger Nietzsches Definition des Lebens durch die Idee des Willens zur Macht. Es ist ziemlich außergewöhnlich, dass Nietzsches Philosophie nichts von ihrer Aktualität verloren hat, nicht nur um die Gesellschaft zu verstehen, sondern auch um das Universum zu verstehen.


Protofaschist, Antichrist, Antidemokrat, Übermensch, Geisteskranker – auch 120 Jahre nach seinem Tod scheiden sich an der Philosophie Friedrich Nietzsches die Geister. Bei Linken und Liberalen aufgrund seiner aristokratischen Lehre und seiner gnadenlosen Ehrlichkeit verhasst, haben auch Rechte ihre Probleme mit dem Propheten des Übermenschen – zu traditionsfeindlich, zu individualistisch, zu unbürgerlich. Jetzt im m FREILICH-Buchladen bestellen.


Verstehen ist ein gutes Stichwort: Europa befindet sich im Niedergang. Die Familie wird zerstört, die Völker werden zersetzt, die Staaten erodieren. Ist das das Werk jener Dekadenz, die Nietzsche schon im 19. und 20. Jahrhundert am Werk sah?

Selbstverständlich ist das so. Nietzsche ist der erste, der bis zum Ende alle Konsequenzen des Todes Gottes in der europäischen Zivilisation analysieren will und was die Moderne, die mit ihr identisch ist, für sie bedeuten wird. Die Antwort ist schrecklich: „Die Wüste wächst.“ Für uns bedeutet das, der „letzte Mensch“ wird das Schicksal unserer westlichen Gesellschaften in die Hand nehmen und die Herrschaft des Nihilismus wird grenzenlos sein. Genau das ist es, was wir heute beobachten können. Die Zerstörung des Sinns, die zwangsläufig mit der Erschöpfung der christlichen Religion einhergeht; die Schwächung aristokratischer Werte; das Zeitalter der Massen und ihre Herdentriebe; der reine Materialismus und der nivellierende Demokratismus; und schließlich das krebsartige Wachstum des Staates, des „kältesten Monsters“, um die Menschen noch mehr in domestizierte Arbeitstiere zu verwandeln: Das sind die Phänomene, die den tiefen Verfall unserer Zivilisation hervorrufen und daran beteiligt sind. Diese Dekadenz führt mechanisch zu dem Wunsch zu sterben, oder besser gesagt: sich selbst zu töten. Daher sind alle linken Moralbewegungen, die wir derzeit erleben, Produkte dieser Dekadenz: Antirassismus, Immigrationismus, Feminismus, Ökologismus à la „Wir müssen aufhören, Kinder zu zeugen“ etc. Alles, was die europäische und westliche Zivilisation töten will, ist ein nihilistisches Gift. Die Moderne setzte diesen vergifteten Prozess im 19. Jahrhundert in Gang. Nietzsche sah all dies und beschrieb es perfekt. Glücklicherweise schrieb er auch viel über die Möglichkeiten, die wir haben, um uns diesem unheilvollen Schicksal zu widersetzen.

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Das Erstarken rechter Parteien in Europa könnte ein Indiz für einen neuen Lebenswillen sein. In Italien regiert mittlerweile auch ein Bündnis aus rechten und konservativen Parteien. Werden rechte Parlamentsmehrheiten in Europa den europäischen Niedergang aufhalten?

Nein, aber sie können helfen. Von politischen Parteien – auch von rechten – sollte man nicht erwarten, dass sie die Retter unserer Zivilisation sind. Sie werden keine Impulse geben. Sie werden lediglich die Einwanderung reduzieren und für mehr Sicherheit sorgen, das ist alles. Die Erfahrung hat gezeigt, dass dies die nihilistischen Kräfte, die in unseren Gesellschaften am Werk sind, nicht eindämmen kann. Nehmen Sie das Beispiel der USA: Unter der Präsidentschaft von Donald Trump entstand mit „Black Lives Matter“ die größte und einflussreichste Woke-Bewegung. Nur weil wir politisch gewinnen, heißt das also nicht, dass wir tatsächlich an Tiefe gewinnen. Stattdessen glaube ich, dass „rechte“, „konservative“ oder „populistische“ politische Parteien als „Neutralisierer“ des Staates durchaus von Interesse sein können. Denn im Moment werden die Kräfte der Identität, des „Wiederaufbaus“ und der Erlösung vom Staat verfolgt, während die nihilistischen Kräfte von ihm subventioniert, unterstützt und gefördert werden. Politisch zu gewinnen muss bedeuten, mehr Freiheiten zu haben, um uns zu organisieren, um die Mentalität zu ändern: die Schule, die Kultur, die Unterhaltung, die Wirtschaft, die Polizei, die Justiz, die Armee usw. zurückzuerobern. Die Lehre aus der Geschichte ist, dass man überall die Macht übernehmen muss, nicht nur im Parlament.


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Nicht nur von Linken wird Nietzsche sein aristokratisches Denken zum Vorwurf gemacht. Massentauglichkeit kann man dem Philosophen jedenfalls schwerlich unterstellen. Aber ist es im Zeitalter der Massendemokratie überhaupt möglich und sinnvoll, Politik ohne Masse zu denken?

Die Massen zählen wenig. Wir sind aus dem eigentlichen Zeitalter der Massen heraus. Es ist vorbei. Unsere Gesellschaften sind atomisiert: Wir befinden uns in einer Gesellschaft der Netzwerke, der Gemeinschaften und der „Zombies“. Letztere stellen die Mehrheit und diese wird von einer Technostruktur und durch Unterhaltung „verwaltet“ werden. Der Rest wird sich in verschiedenen ethnischen, ideologischen und religiösen Gemeinschaften organisieren, die Sie sich wie Weintrauben vorstellen können. Diese Gemeinschaften werden in der Arena der Machtnetzwerke gegeneinander antreten. Die Eliten oder, anders ausgedrückt, die Aristokratien werden also immer wichtiger werden, zumal die kognitiven Ungleichheiten noch weiter zunehmen werden. Der IQ sinkt in unseren Gesellschaften, Zombies verbringen ihre Zeit mit lähmenden Apps, Bildung erzieht niemanden mehr und nur wenige Individuen entgehen dieser kognitiven Katastrophe. Ernst Jünger sagte, dass man eines Tages ziemlich deutlich sehen werde, wer durch das Fernsehen und wer noch durch das Lesen erzogen worden sei. So weit sind wir schon, und mit Smartphones ist es noch schlimmer geworden. Nietzsches „aristokratische“ Auffassung von Politik ist also absolut aktuell.

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Zum Abschluss: Was raten sie Jugendlichen, die sich als Einzelkämpfer dem Zeitgeist der Massen widersetzen wollen?

Sich von der allgemeinen Zombifizierung befreien. Dies beginnt mit einer gesunden Lebensweise: Zurück zur Natur, Sport, gesunde Ernährung, Lesen. Zweitens: Netzwerke schaffen, Gemeinschaften bilden, Kollektivität erzeugen, denn die Lösung ist nicht individualistisch. Überall die Macht übernehmen und diese Macht in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Das Land und die Innenstädte gleichzeitig kontrollieren: das Land als Rückzugsorte, die Innenstädte als Orte der Macht. Und natürlich Familien gründen und möglichst vielen Kindern hochgradig europäische und anspruchsvolle Verhaltensweisen vermitteln. Wenn die Massen noch mehr verblödet sind, werden diese Kinder die Eliten sein. Da ich mit europäischen Brüdern spreche, möchte ich noch ergänzen, europäische Synergien zu schaffen, um dieses europäische Bewusstsein herzustellen, das allein unsere Zivilisation retten und noch weiter entwickeln kann. Das ist ein schönes Programm!

Vielen Dank für das Gespräch!


Das gesamte Interview lesen Sie in der FREILICH-Ausgabe 21 „Freiheit in Gefahr“.