Woodstock ’99 und die Dialektik der Aufklärung (2)

In jüngster Zeit erschienen gleich zwei Dokumentarfilme über die Ereignisse des Woodstock ’99-Festivals. Diese Dokumentationen zeigen die Dialektik der Aufklärung.
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Woodstock ’99 und die Dialektik der Aufklärung (2)

Woodstock 1969, James M Shelley, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons (Bild zugeschnitten)

In jüngster Zeit erschienen gleich zwei Dokumentarfilme über die Ereignisse des Woodstock ’99-Festivals. Diese Dokumentationen zeigen die Dialektik der Aufklärung.

Ein Essay. Teil Eins ist hier zu lesen.

Verletzte und sexuelle Belästigung

Darüber hinaus kam es zu einer Reihe an sexuellen Übergriffen. Tatsächlich sind einige „harmlosere“ Fälle auf dem offiziellen Video des Auftritts zu sehen: „Zwei zufällige Schnitte auf das Publikum zeigen Frauen mit entblößten Brüsten, die von umstehenden Männern begrapscht werden. Dies geschieht in Aufnahmen, die jeweils vielleicht ein- oder zwei Sekunden dauern. Wenn es derart einfach war, Aufnahmen von Frauen zu machen, die sexuell belästigt wurden, kann ich mir nur vorstellen, wie verbreitet dieses Verhalten tatsächlich war“, fasste es der Journalist Steven Hyder später zusammen.[1] Noch sehr viel schwerer wiegen hingegen Anschuldigungen und Augenzeugenberichte, nach denen teilweise Frauen während des Crowdsurfens in die Menge hinabgezogen und von Gruppen von Männern vergewaltigt wurden. Ähnliche Vorfälle wurden auch für das Konzert der Band Korn am Vortag berichtet.[2]
Popmusik für reale Gewalt verantwortlich zu machen wirkt immer ein wenig albern, und dennoch: unabhängig davon, was man von der Musik Limp Bizkits halten mag, ist es beim Ansehen des mitgefilmten Konzerts schwer, die unglaubliche Energie der Szenerie zu ignorieren.[3] Zum einen ist da die schiere Masse des Publikums. Es scheint kein Ende zu nehmen, in jede Richtung und weit bis in den Horizont drängen sich Menschen. Zum anderen ist diese Masse in ständiger Bewegung, sie springt, schlägt um sich, schubst sich hin und her; es fliegen Flaschen, Schuhe und Plastikbecher durchs Bild. Ich habe durchaus das eine oder andere Konzert in meinem Leben besucht, aber ich kann mich an keins erinnern, bei dem sich das Publikum in eine derartige Ekstase hineingesteigert hat.

Eine Masse voller Energie

Immer wieder fordert Sänger Fred Durst die Menge auf, auszurasten, mitzugehen , „tief in sich zu gehen und alle negative Energie rauszulassen.“[4] Als die Band das Lied Thieves der Industrial-Gruppe Ministry covert, ruft er abwechselnd verschiedene Teile des Publikums an, linke Seite, rechte Seite, die Leute im Hintergrund und „die verrückten Motherfucker vorne im Pit. Wenn ich sage, dass ihr ausrasten sollt, dann rastet verdammt nochmal aus.“ Das ganze Konzert wirkt wie eine Demonstration des alten Verdikts Adornos, nach dem Popkultur ein Totalitarismus-Surrogat sei.

Noch am gleichen Abend kam es zu weiteren Vorfällen. Während eines Auftritts von Fatboy Slim im sogenannten Rave-Hangar, stahl ein offenbar unter Drogeneinfluss stehender Besucher einen Lastwagen und fuhr damit in die Menschenmenge (wie durch ein Wunder wurde dabei niemand verletzt). Das Konzert wurde abgebrochen. Nachdem sich die Security schließlich durch die Menschenmenge gekämpft und den Lastwagen erreicht hatte, bot sich ihnen dort ein verstörendes Bild: „Ich öffnete die Tür und sah eine rostige alte Machete und ein bewusstloses, jugendliches Mädchen ohne Kleidung. Direkt neben ihr stand ein Junge, der sich gerade die Hosen hochzog.“[5]

Eine NGO-Aktion sorgte für einen Brand

Nicht sehr viel besser verlief der nächste und letzte Tag des Festivals. Während des Auftritts des Schlussakts, der Rockband Red Hot Chili Peppers, verteilte eine NGO namens PAX Kerzen im Publikum. Mit einem Lichtermeer sollte ein Zeichen gegen Schusswaffengewalt und ein Gedenkmoment für die Opfer von Columbine gesetzt werden.

Es kam wie es kommen musste: nach wenigen Minuten häuften Zuschauer in den hinteren Rängen Müllberge zusammen und setzten sie in Brand. Das Konzert wurde unterbrochen und Anthony Kiedis, Frontsänger der Band, von den Veranstaltern gebeten, das Publikum zur Ordnung zu rufen. Wie bei Fred Durst klang  der Appell jedoch auch in diesem Fall merkwürdig doppeldeutig: „Heilige Scheiße, das ist ja wie in Apocalypse Now da draußen“ raunte Kiedis ins Mikro, bevor seine Band das Festival mit einem Cover von Jimi Hendrix „Fire“ beendete. Kaum war der letzte Ton verklungen, eskalierte die Situation endgültig. Immer weitere Feuer breiteten sich auf dem Festivalgelände aus, umringt von johlenden und tanzenden Jugendlichen, die die Flammen mit allem nährten, was ihnen in die Hände fiel.[6] Ein 18-Meter hoher Lautsprecherturm wurde erklommen und umgestürzt (auf wunderliche Weise wieder ohne Verletzte).[7] Zelte und Lastwagen mit Merchandise und Nahrung wurden geplündert (in der HBO-Doku erzählt ein Besucher, dass er zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal seit Beginn des Festivals seinen Durst stillen konnte, da er aufgrund der hohen Preise zuvor beim Wasser gespart hatte).[8] Zuletzt setzte die Menge eine Reihe von Traktoranhängern in Brand, die am Rande des Festivals geparkt waren und schließlich, einer nach dem anderen, spektakulär explodierten.[9] Beendet wurde der Spuk schlussendlich durch das Eintreffen der Nationalgarde.

Die Mythologie der „friedlichen“ 60er Jahre

Was war hier geschehen? Und sagte das Festival tatsächlich etwas über die Generation „Kurt Cobain“ aus (die sich hier freilich bereits mit den jungen Millenials überschnitt), ähnlich wie das originale Woodstock von 1969 etwas über Jugendbewegung der 60er Jahre ausgesagt hatte?
Wie bereits angedeutet, liegt die Krux meiner Ansicht nach in der Mythologie der „friedlichen“ 60er Jahre, die, wie ebenfalls bereits gezeigt, gar nicht so friedlich waren. Aber die Sache liegt eigentlich noch tiefer. Die Gegenkultur der 60er war nun einmal vor allem eins: subversiv. Angefangen bei banalen Dingen wie der Kleidung bis hin zu Fragen der Sexualität und groß gedachten Formen des Zusammenlebens (Kommunen auf dem Land, Großstadt-Guerilla in der Metropole), wollte sie alles Bisherige aufbrechen, sich allem Morschen und Überkommenen entledigen. Die eine Strömung neigte zur psychedelischen Bewusstseinserweiterung, die andere zur ludditischen Flucht aufs Land, wieder andere zu kommunistischen Alternativen. Gemeinsam war allen jedenfalls eine Überzeugung: das was jetzt da war, konnte nicht so stehen bleiben. Ob die 60er dabei tatsächlich alles umkrempelten, darf bezweifelt werden. Tatsächlich waren die Institutionen und Werte der „alten Welt“ in vielen Teilen eben bereits morsch geworden, gewissermaßen anachronistisch in der sich rasch globalisierenden und technologisierenden Welt. Die 60er stießen, was ohnehin bereits fiel.

Die 90er Jahre und die Generation X waren das Resultat der Welt, die die 60er hinterlassen hatten. Eine Revolution war ausgerufen worden und hatte dann nicht stattgefunden. Eine Revolution war ausgerufen worden und hatte dann irgendwie doch stattgefunden: statt einer Arbeiterrevolution war die ewige Verflüssigung, der schwebende Signifikant Laclaus, zur Norm geworden. Statt sich zur Erde zu bekennen, hatten sich die Menschen dem Computer zugewandt und es waren Mitglieder der Counter-Culture, Leute wie der zwischen Hippiekultur und Silicon Valley oszillierende Stewart Brand, gewesen, die diese Entwicklung vorangetragen hatten. Worin wäre dieser Umstand besser symbolisiert als durch die Tatsache, dass der Hauptveranstalter von Woodstock ’69 und Woodstock ’99 ein und dieselbe Person waren? Michael Lang, einer von vielen Hippies, die zu Yuppies geworden waren und dessen Counter-Culture-Ideale ihn direkt zum Neo-Liberalismus geführt hatten. Die nihilistische Wut, die sich in der Musik von Bands wie Korn oder Limp Bizkit ausdrückte und der die Veranstalter so verwirrt gegenüberstanden, war eben auch ein Ausdruck dieses Umstands. Als die Jugendlichen Langs Festival niederbrannten und „Down with Profitstock!“ an die Bühnen sprayten, da agierten sie beinahe als sein dunkles Gewissen, eine zynischere, wütendere Version seines früheren Selbst, die ihm den Ausverkauf seiner Ideale vorwarfen, aber selbst keine mehr hatten. Die einzige Rebellion, die ihnen blieb, war die größtmögliche sinnfreie Zerstörung.


[1] https://www.theringer.com/2019/7/9/20687231/limp-bizkit-break-stuff-woodstock-99

[2] https://www.rollingstone.com/music/music-news/19-worst-things-about-woodstock-99-176052/

[3] https://www.youtube.com/watch?v=hcWGZ7egfnU

[4] https://www.youtube.com/watch?v=YPk7-fCvbao

[5] https://bulgaria.postsen.com/music/38686/Woodstock-99-Girl-raped-in-a-van-while-Fatboy-Slim-hid-in-his-dressing-room.html

[6] https://www.youtube.com/watch?v=DSnjREqyPbM

[7] https://www.youtube.com/watch?v=QHM5u1R8UJ0

[8] https://www.youtube.com/watch?v=XevJFK-tq2c

[9] https://www.youtube.com/watch?v=XevJFK-tq2c

Über den Autor

Lorenz Bien

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