Woodstock ’99 und die Dialektik der Aufklärung (1)

In jüngster Zeit erschienen gleich zwei Dokumentarfilme über die Ereignisse des Woodstock ’99-Festivals, der eine von Netflix, der andere von HBO produziert, und auf den entsprechenden Streaming-Plattformen angeboten. 
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Woodstock ’99 und die Dialektik der Aufklärung (1)

Das Original: Woodstock 1969, Derek Redmond and Paul Campbell, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons (Bild zugeschnitten)

In jüngster Zeit erschienen gleich zwei Dokumentarfilme über die Ereignisse des Woodstock ’99-Festivals, der eine von Netflix, der andere von HBO produziert, und auf den entsprechenden Streaming-Plattformen angeboten. 

Ein Essay. Teil Zwei ist hier zu lesen.

Wer die Geschichte des Festivals nicht kennt:  Woodstock 1999 sollte die zweite Neuauflage des legendären Festivals von 1969 werden (1994 gab es bereits die erste), also drei Tage „Peace, Love & Music“ für die Generation X. Stattdessen endete das Festival in Randale, Brandstiftungen, Plünderungen und einer Reihe von sexuellen Übergriffen. Ein gewisses Narrativ zog sich dabei gerade durch die frühe Berichterstattung über das Festival: Woodstock ’99 als Anti-Woodstock, als denkbar krassestes Gegenbeispiel des originalen Festivals und der Gegenkultur der 60er Jahre allgemein, die für Frieden und Liebe gestanden habe. Die Dokumentation von HBO relativiert diese Auffassung gleich zu Beginn und merkt richtigerweise an, dass auch das ’69er Woodstock von Problemen überschattet wurde.

Tatsächlich erzählt Michael Lang, einer der Organisatoren des Original-Woodstocks, dass ihm die Idee zur 99er Neuauflage nach dem Amoklauf an der Columbine Highschool gekommen sei: „Ich wollte den jungen Menschen zeigen: Das hier ist Counter-Culture“.

Die Heimat einer neuen Counter-Culture

Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da die beiden Attentäter tatsächlich eine große Faszination für exakt die Gegenkultur-Epoche hegten, aus der Lane stammt: beide bewunderten Charles Manson,[1] hörten Techno-Musik (dass die Rave und Techno-Subkultur sich selbst als eine Art Neuauflage des Summer of Love betrachtete, ist heute etwas in Vergessenheit geraten, spielte in den 90ern aber durchaus noch eine popkulturelle Rolle) und als die Polizei nach dem Amoklauf die Autos beider Täter durchsuchte, fand sie eine Best-Of-Kassette der Doors.[2] Zudem ist der Mythos der friedlichen 60er Jahre-Hippies an für sich bereits ein Irrtum. Das Original-Woodstock hatte drei Tote zu beklagen (zwei Herointote und eine Person, die versehentlich von einem Traktor überfahren wurde)[3] und knapp 700 Drogenüberdosierungen, die medizinisches Eingreifen erzwangen.[4] Aufgrund der chaotischen Planung des Festivals wurden innerhalb der drei Tage Nahrungsmittel und Medikamente knapp, worauf die amerikanische Armee Verpflegung mit Helikoptern einfliegen musste. Mehrere Festivalbesucher reagierten allerdings mit Paranoia und Aggression auf die unerwarteten Besucher: „War die Regierung gekommen um uns auszuspionieren, uns zu bedrohen, das Festival aufzulösen, oder uns zu vergasen?“ fasste die amerikanische Autorin und Festivalbesucherin Susan Reynolds später ihre eigenen Gedanken zusammen.[5]

Einige andere verließen nach der Ankunft der Helikopter das Festival:  „Es erschien mir mehr wie ein Kriegsgebiet, das einfach nur momentan friedlich wirkte. Es war überhaupt keine Frage, dass ich dort wegwollte“ erzählte eine andere Besucherin.[6] Noch besser lässt sich der nicht ganz so friedliche vibe der späten 60er wohl am Altamont Free Festival in Kalifornien aufzeigen, welches nur wenige Monate nach dem Original-Woodstock stattfand. Ähnlich wie Woodstock ’99 wurde das Festival von Gewalt überschattet, darunter zwei Todesfällen mit anschließender Fahrerflucht, einer Reihe von Autodiebstählen und dem Tod des 18-Jährigen Meredith Hunter, der während des Konzerts eine Schusswaffe zog und offenbar versuchte, die Bühne zu stürmen, bevor er von einem Mitglied der Security mit mehreren Messerstichen getötet wurde.[7]„Security“ ist hier tatsächlich in Anführungsstrichen zu sehen. Engagiert worden waren Mitglieder der Rockergang Hells Angels, die sich allerdings eher damit vergnügten, sich zu betrinken und die Besucher teilweise mit Baseballschlägern und Motorradketten zu attackieren.[8]

Eine Neuauflage der Neuauflage

Aber zurück zu Woodstock ’99: nachdem das ’94er Revival zwar von der Kritik gelobt worden, aber zu einem finanziellen Desaster geworden war (mehrere der Besucher rissen teilweise die Zäune einfach ein, wodurch sich viele Nachzügler gratis aufs Festivalgelände schlichen) wollte man es 1999 noch einmal versuchen. Gebucht wurde so ziemlich alles was damals hip und angesagt war: ruhigere Folkrock Acts wie Alanis Morissette, schmalzige Post-Grunge Bands wie Bush und Nu-Metal Bands wie Korn und Limp Bizkit, die sich damals auf dem Zenit ihres Erfolgs befanden.

Um die finanziellen Einbußen des Vorgängerfestivals auszugleichen, wurden die Zeichen diesmal ganz bewusst auf Profit gestellt: Essen und Trinken durfte unter keinen Umständen mit auf das Gelände gebracht werden (bei Drogen wurde hingegen eher weggesehen), die Versorgung zugleich  an andere Firmen übergeben, die ihre Preise selbst wählen konnten. Als Folge davon kostete eine Flasche Wasser anfangs vier, später zwölf Dollar (was auch heute noch ein stolzer Preis wäre, Ende der 90er aber schlichtweg lächerlich war). In Kombination mit den hohen Temperaturen, die im Laufe des Wochenendes 38 Grad Celsius erreichten, und der Tatsache, dass man als Festivalgelände eine verlassene Militärbasis gewählt hatte (mit viel Asphalt und wenig Schatten) sorgte das nicht bloß dafür, dass die Krankenstation mit einem beständigen Fluss an durch Dehydration und Hyperthermie kollabierten Besuchern versorgt wurde, es führte auch zu einem nicht geringen Maß an Unmut unter den Besuchern.

Wüstenhafte Zustände

Zwar gab es aufgebaute Wasserstationen, an denen man gratis trinken konnte – die Schlangen davor waren jedoch derart lang, dass einige Besucher kurzerhand die Wasserrohre aufbrachen, sich in den entstandenen Fontänen duschten und die Zeltplätze innerhalb kürzester Zeit überfluteten. Nicht viel besser sah es bei den sanitären Anlagen aus. Die portablen Toiletten waren bereits nach dem ersten Tag überfüllt und teilweise verstopft. Mit der Zeit versagten die Anschlussrohre, was zur Folge hatte, dass große Mengen an Exkrementen nach außen sickerten. Da Viele die Hinterlassenschaften für einfachen Schlamm hielten, dauerte es nicht lange, bis sich die ersten Besucher kleine Schlachten untereinander  lieferten oder vorübergehende Gäste damit bewarfen.

Doch  das waren nicht das einzigen medizinischen Probleme. Nach dem ersten Tag litten einige Festivalbesucher am sogenannten „Trench Mouth“, einer Form der Mandelentzündung, die beim Trinken von kontaminiertem Wasser auftreten kann. Die räumliche Nähe von Wasserstationen und Toiletten, in Kombination mit den aufgebrochenen Wasserrohren und dem Heraussickern des Toiletteninhalts hatte offenbar das Wasserangebot verseucht.

Hitze, Müllberge und Wassermangel führten schließlich zu einer gereizten und missmutigen Stimmung, die sich früh bemerkbar machte. Die amerikanische Sängerin Jewel beschrieb es im Rückblick als „ein Publikum, bei dem ich das Gefühl hatte, es könnte jeden Moment kippen“.[9] Der amerikanische Elektronikproduzent Moby erklärte in der HBO-Dokumentation: „Nachdem ich schon seit einigen Jahren in Clubs gespielt habe, kann ich Stimmungen mittlerweile recht gut lesen. Bei Woodstock ’99 war mir direkt am ersten Tag klar, dass hier etwas nicht stimmt. Wirklich jeder, den man traf, war angepisst und hat sich beschwert. Ich wollte nur dort weg“.[10]

„Das Krankeste, was ich je gesehen habe!“

Zu den ersten schwerwiegenden Vorfällen kam es schließlich am zweiten Tag, während eines Konzerts der Nu-Metal Band Limp Bizkit. In der nachfolgenden Berichterstattung wurde der Auftritt beinahe zu einer Art mythischen Kipppunkt stilisiert und zu dem Moment, an dem das Festival sich von einer Party zu gewaltgeladenem Chaos gewandelt habe. Bedenkt man, dass die eigentlichen Ausschreitungen erst am nächsten Tag stattfanden, ist das sicherlich übertrieben. Ganz falsch ist es allerdings auch nicht. Der Journalist Brian Hiatt war derart verstört von der Menge an Verletzten, die während des Konzerts aus dem Moshpit getragen werden mussten, dass er ihnen in die Erste-Hilfe-Station folgte: „Ich sah weinende Jugendliche, die im Moshpit verletzt worden waren, und sprach mit dem medizinischen Personal, das völlig überfordert mit der Anzahl war, die aus diesem Moshpit getragen wurden. Es gab Jugendliche, die in das Erste-Hilfe-Zelt kamen und den Ärzten sagten: ‚Ihr müsst die Show abbrechen, das ist das Krankeste, was ich je gesehen habe.’“[11]

Tatsächlich forderte die Festivalleitung den Frontsänger der Band, Fred Durst, mehrfach auf, das Publikum zur Ruhe aufzurufen, was er auch halbherzig tat: „Sie wollen uns bitten, euch zu bitten, euch ein wenig zu beruhigen. Sie sagen, dass zu viele Menschen verletzt werden. Niemand soll sich verletzen, aber ich finde nicht, dass ihr euch beruhigen solltet. Euch beruhigen… das hat Alanis Morissette doch schon mit euch gemacht.“[12] Blutende Nasen und gebrochene Gelenke waren jedoch nicht der einzige Tribut, den das Konzert forderte. Im Laufe des Auftritts begannen mehrere Personen, einen Lautsprecherturm zu erklettern und brachten ihn dabei derart zum Schwanken, dass das sich auf ihm befindliche Tontechniker-Team evakuiert werden musste. Die Sperrholzverkleidung des Turms wurde zusätzlich von Fans abgerissen und zum Crowdsurfen benutzt.[13]


[1] https://schoolshooters.info/sites/default/files/harris_influences_ideology_1.3.pdf

[2] https://www.researchcolumbine.com/documents/evidence-volume1/submissions-reports-164.jpg

[3] https://www.thesun.co.uk/news/15900081/dark-side-woodstock-69-deaths-drugs/

[4] https://www.thesun.co.uk/news/15900081/dark-side-woodstock-69-deaths-drugs/

[5] https://www.smithsonianmag.com/air-space-magazine/without-helicopters-there-wouldnt-have-been-woodstock-180972886/

[6] https://www.smithsonianmag.com/air-space-magazine/without-helicopters-there-wouldnt-have-been-woodstock-180972886/

[7] https://www.youtube.com/watch?v=0qTKsylrpsg&t=274s

[8] https://www.youtube.com/watch?v=JUlyVSfhgaM

[9] https://best-of-netflix.com/watch-trailer-woodstock-99-docuseries-clusterfck/

[10] https://www.hbo.com/movies/woodstock-99-peace-love-rage

[11] https://www.theringer.com/2019/7/9/20687231/limp-bizkit-break-stuff-woodstock-99

[12] https://www.youtube.com/watch?v=XAWuRiHHKXQ

[13] https://www.youtube.com/watch?v=r992quFyThM

Über den Autor

Lorenz Bien

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