Bürger zweiter Klasse? Hilfswerke schlagen Alarm über die Lage der Christen in Syrien
Ein Jahr nach dem politischen Umbruch in Syrien geraten Christen zunehmend zwischen die Fronten: Einerseits besteht die Hoffnung auf Freiheit, andererseits sind sie politischer Ausgrenzung, islamistischem Druck und wachsender Unsicherheit ausgesetzt.
Syrische Christen bei einer Sonntagsmesse in Damaskus.
© IMAGO / ZUMA Press WireDamaskus. – Ein Jahr nach dem Machtwechsel in Syrien ziehen kirchliche Hilfsorganisationen eine ernüchternde Bilanz. Obwohl die Kirchen geöffnet sind und es eine scheinbare religiöse Freiheit gibt, fühlen sich Christen politisch marginalisiert und gesellschaftlich unter Druck gesetzt. Ihre Hoffnungen auf einen Neuanfang für das Land haben sich bislang kaum erfüllt, wie die Katholische Nachrichtenagentur berichtet.

Ernüchterung unter christlichen Gemeinden
Dirk Bingener, Präsident des katholischen Hilfswerks missio, beschreibt die Lage mit klaren Worten: „Wir ziehen eine eher ernüchternde Bilanz. Zwar sind die Kirchen geöffnet und Christen können ihren Glauben leben, doch fühlen sie sich wie Bürger zweiter Klasse, die vom Aufbau eines neuen Syriens ausgeschlossen sind.“ Behörden hätten in einzelnen Regionen zwar beschlagnahmtes Kirchengut zurückgegeben und suchten punktuell den Austausch mit Kirchenvertretern. Das seien aber leider nur Einzelfälle, betont Bingener: „Insgesamt bezweifeln die Christen im Land den Reformwillen der neuen Regierung.“ Auch die Wahlen des vergangenen Herbstes hätten das Vertrauen nicht stärken können, denn im Parlament seien Christen kaum vertreten.
Radikalisierung und wachsender Druck
Für viele syrische Christen wiegt besonders schwer, dass konservativ-islamistische Kräfte laut Bingener zunehmend den Alltag bestimmen. Er schildert, dass radikale Ansichten in Schulen, Verwaltungen und öffentlichen Einrichtungen immer mehr Raum einnähmen. Während dieses Klima in Großstädten noch gedämpfter zu spüren sei, verschärfe es sich in ländlichen Regionen erheblich.
Die neue Regierung habe es zudem nicht geschafft, Übergriffe islamistischer Gruppen auf Minderheiten zu verhindern. Vor diesem Hintergrund warnt Bingener: „Die Christen in Syrien sehnen sich nach Stabilität, Sicherheit und politischer Teilhabe. Diese Punkte sind Prüfsteine für die neue Regierung ein Jahr nach dem Sturz Assads.“ Er fügt hinzu: „Gelingt es ihr nicht, die Lage glaubwürdig und spürbar zu verbessern, werden noch mehr Christen überlegen, ob sie in diesem Land bleiben können.“
Humanitäre Lage weiter dramatisch
Auch die evangelischen Hilfswerke zeichnen ein düsteres Bild. Diakonie Deutschland, Brot für die Welt und die Diakonie Katastrophenhilfe sprechen von einer weiterhin instabilen Sicherheitslage. Millionen Menschen seien nach wie vor innerhalb des Landes vertrieben. Wohnraum und Unterstützung blieben weiterhin unzureichend. „Der internationale Plan für humanitäre Hilfe in Syrien für das Jahr 2025 war Anfang Dezember erst zu 30 Prozent finanziert. Dennoch werden in Deutschland immer wieder Forderungen nach möglichen Rückführungen von syrischen Geflüchteten laut“, heißt es in ihrer gemeinsamen Erklärung.
Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt und Diakonie Katastrophenhilfe, weist auf die anhaltenden Gefahren im Land hin: „Bewaffnete Milizen stellen in ganz Syrien eine ernsthafte Bedrohung für die Menschen dar, die humanitäre und wirtschaftliche Lage im Land ist katastrophal. Damit fehlen wichtige Grundvoraussetzungen für Rückkehrende, sich ein neues Leben in der Heimat aufzubauen.“ Sie betont: „Der Schutz und die Unterstützung geflüchteter Menschen müssen weiterhin zentrale Leitlinien politischen Handelns bleiben.“
Bedeutung der syrischen Diaspora in Deutschland
Der Präsident der Diakonie Deutschland, Rüdiger Schuch, hebt unterdessen die Rolle der in Deutschland lebenden Syrer hervor. Viele von ihnen seien längst in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integriert. Rund 250.000 von ihnen würden sozialversicherungspflichtig arbeiten, zahlreiche davon in Berufen, in denen Fachkräfte dringend benötigt würden. Schuch fordert daher: „Es braucht ein klares Signal, dass viele Menschen bleiben werden und hier nach wie vor willkommen sind. Sie sollten in erster Linie Bleibeperspektiven haben, statt sie zur Rückkehr nach Syrien aufzufordern.“



