Einwanderung als Bündnispflicht: Warum Bonn der Türkei die Tür öffnen musste
Das deutsch-türkische Gastarbeiterabkommen von 1961 war mehr als nur Wirtschaftspolitik. Es legte zugleich den Grundstein für eine neue Migrationsrealität.
Konrad Adenauer behauptete im September 1951, nur ein integriertes Europa könne das christliche Abendland im Ringen mit der gottlosen Sowjetunion bewahren. Zehn Jahre später schloss Adenauers Regierung ein Gastarbeiterabkommen mit der Türkei. Bis zum Anwerbestopp unter dem SPD-Kanzler Willy Brandt strömten 870.000 Muslime vom Bosporus nach Westdeutschland. Heute können sich drei Millionen Menschen in Deutschland auf türkische Wurzeln berufen. Angesichts dieser Macht des Faktischen sagte Angela Merkel zu Beginn der Migrationskrise 2015, dass der Islam zu Deutschland gehöre.

Wie das Deutsche Reich in der Endphase des Zweiten Weltkriegs litt auch die frühe Bonner Republik unter starkem Arbeitskräftemangel. Um den Bedarf der boomenden Wirtschaft zu decken, schloss Westdeutschland ab Mitte der 1950er-Jahre Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien und Griechenland. Eine besonders aggressive Anwerbepolitik vertrat dabei Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Als die italienische Regierung aufgrund ihres Handelsbilanzdefizits über Zahlungsengpässe klagte, empfahl der Vater der sozialen Marktwirtschaft im November 1954 kurzerhand die „Hereinnahme“ von 200.000 italienischen Hilfsarbeitern. Mithilfe der Rücküberweisungen der Gastarbeiter, so die Logik des industriefreundlichen Wirtschaftsministers, sollte Italien genügend DM erlangen, um weiterhin bei deutschen Betrieben einkaufen zu können.
Adenauer, Migration und die Folgen bis heute
Franz Josef Strauß schloss sich seinem Ministerkollegen Erhard an. Der CSU-Politiker forderte in einer Kabinettsitzung im Oktober 1955, den Lohnforderungen der Gewerkschaften durch den „Einsatz ausländischer Arbeitskräfte“ den Wind aus den Segeln zu nehmen. Adenauer stimmte Straußens Vorschlag „in vollem Umfang“ zu und bat Wirtschaftsminister Erhard, die notwendigen Schritte für den Import der Arbeitsmigranten in die Wege zu leiten.
Die Bedeutung des Arbeitskräftemangels für den Abschluss des deutsch-türkischen Gastarbeiterabkommens von 1961 ist umstritten. Die Konrad-Adenauer-Stiftung vertritt die Ansicht, Deutschland habe das Abkommen vornehmlich aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen. Hierfür spricht, dass die Bonner Republik in den 1960er-Jahren in eine Phase der Vollbeschäftigung eintrat, die sie weder zuvor noch später je wieder erreichte.
Die Migrationsforscherin Heike Knortz geht dagegen davon aus, dass vornehmlich außenpolitische Erwägungen für das Zustandekommen des Gastarbeiterabkommens mit der Türkei verantwortlich waren. Knortz weist hierzu auf einen Briefwechsel zwischen dem Auswärtigen Amt und der Bundesanstalt für Arbeit hin: Darin betonte der Chef der Bundesanstalt, Anton Sabel (CDU), im Dezember 1960, dass Westdeutschland keineswegs auf türkische Arbeitskräfte angewiesen sei. Der Bedarf könne vielmehr über die bereits geschlossenen Anwerbeabkommen mit südeuropäischen Ländern gedeckt werden. Sabel bezweifelte aber, ob „sich die Bundesrepublik einem etwaigen solchen Vorschlag der türkischen Regierung verschließen“ könne. Denn die Türkei habe bereits ihre Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft beantragt und nehme als NATO-Partner eine „nicht unbedeutende Stellung“ ein.
Warum das Türkei-Abkommen geschlossen wurde
Eine ähnliche arbeitsmarktpolitische Auffassung vertrat Arbeitsminister Theodor Blank (CDU) in einem Bericht an den Bundestag im Dezember 1962. Trotz des angespannten Arbeitsmarktes sei in den kommenden Jahren mit einer verringerten Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften aus dem Ausland zu rechnen. Dieses gegenüber der deutschen Öffentlichkeit abgegebene Versprechen wurde jedoch bald gebrochen: Allein in den nächsten drei Jahren nahmen eine halbe Million Fremdarbeiter in Westdeutschland eine Beschäftigung auf.
Wirklich nachvollziehbar wird das deutsch-türkische Gastarbeiterabkommen erst, wenn man das transatlantische Zwangskorsett berücksichtigt, das Kanzler Adenauer der jungen Bundesrepublik übergestülpt hatte: Seit Ausrufung der Truman-Doktrin und dem NATO-Beitritt der Türkei galt das Land am Bosporus als Pfeiler des westlichen Bündnisses. Ein amerikanischer Diplomat bezeichnete die Türkei im maßgeblichen US-Magazin Foreign Affairs als einen der „verlässlichsten Partner“ seines Landes. Noch deutlicher brachte es der Nationale Sicherheitsrat in einer Sitzung vom Februar 1955 auf den Punkt: „Cooperate with Turkey as a full and equal member of the Western European alliance of free peoples.“
Die türkische Regierung nutzte ihre besondere Beziehung zu den USA, um von Westdeutschland weitreichende Konzessionen zu fordern. So betonte ein hoher Beamter des US-Außenministeriums bei einem Gespräch mit Adenauer am 11. Dezember 1959 in Bonn, wie wichtig es seiner Regierung sei, dass Deutschland die Türkei wirtschaftlich unterstütze. Adenauer bemerkte, dass die Türkei unter hoher Arbeitslosigkeit leide. Angesichts der geopolitischen Bedeutung der Türkei sicherte Adenauer Hilfe zu und bat sein Gegenüber um Rückmeldung, wie das Problem am besten zu lösen sei.
NATO, Truman-Doktrin und Westbindung
Am gleichen Tag wurde Adenauer vom türkischen Botschafter aufgesucht. Der Botschafter bat ihn um einen Kredit von über 67 Millionen DM. Die finanzielle Lage der Türkei war damals sehr ernst. Sowohl die Weltbank als auch die OECD verweigerten dem notorischen Pleitestaat jede Hilfe. Die Bundesregierung bot der Türkei dennoch einen Kredit über 60 Millionen DM an. Im Februar 1960 berichtete Außenminister Heinrich von Brentano dem Kabinett, dass die türkische Seite das Angebot ohne Begründung als „unakzeptabel“ abgelehnt habe.
Die selbstbewusste Verhandlungsführung der Türken dürfte zum Teil auf den Druck der USA auf die Bundesregierung zurückzuführen sein. So findet sich in einem Kabinettsprotokoll vom Januar 1961 die Aussage, die Amerikaner „verlangten“ eine Beteiligung der Bundesregierung an der Verteidigungshilfe für die Türkei. Ein Memorandum des amerikanischen Außenministeriums vom Februar 1963 gewährt einen einzigartigen Einblick in die Beweggründe der Bonner Politeliten. Demnach würde die Bundesregierung es bevorzugen, bei der Vergabe von Entwicklungshilfe hinter den USA und Frankreich in der zweiten Reihe zu stehen. Die deutsche Seite vertrete dabei nicht vornehmlich nationale Interessen. Vielmehr würden die Bonner Politiker auf „amerikanischen und französischen Druck reagieren“.
In den folgenden Jahren entwickelte sich der Tagesordnungspunkt „finanzielle Hilfen an die Türkei“ zu einem wiederkehrenden Bestandteil der Kabinettsitzungen der Bundesregierung. Regelmäßig wurde Adenauer nun persönlich von türkischen Diplomaten und Ministern belagert. Mit Verweis auf die Westbindung der Bonner Republik und die militärische Bedeutung der Türkei pressten sie dem „Alten“ eine Konzession nach der anderen ab.
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Wie Washington deutsche Türkeipolitik steuerte
Diese Penetranz war äußerst erfolgreich: Im April 1961 hatte die Bundesregierung bereits die beachtliche Summe von 1,5 Milliarden DM an das marode Agrarland überwiesen. Zuvor hatte ein Gutachten des Wirtschaftsministeriums, das während einer Kabinettssitzung verlesen wurde, noch gewarnt: Wegen der katastrophalen Zahlungsbilanz bestehe „nicht die geringste Aussicht“ auf Rückzahlung der Türkenkredite.
Diese für die Bundesregierung äußerst missliche Lage dürfte erklären, warum am 31. Oktober 1961 ein stiller Notenaustausch zwischen dem Auswärtigen Amt und der türkischen Botschaft stattfand. Der Notenaustausch legte die Grundlage für den massenhaften Import türkischer Gastarbeiter. Wie bei den südeuropäischen Anwerbeabkommen sollten die Rücküberweisungen der in Deutschland tätigen Gastarbeiter die Devisenprobleme des Entsendelandes lindern und den Import deutscher Waren fördern.
Der Wille der Bonner Politeliten zur Verschmelzung mit dem muslimischen Land kam mit dem Abschluss des Gastarbeiterabkommens erst richtig in Fahrt: In einer Kabinettssitzung im Dezember 1961 schlug Wirtschaftsminister Erhard vor, die Türkei mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu assoziieren. Nach sechs Jahren, so Erhard, werde sich zeigen, ob die Türkei wie zuvor Griechenland Vollmitglied des EU-Vorgängers EWG werden könne.
Anlässlich der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens im September 1963 betonte Walter Hallstein (CDU), einer der engsten Vertrauten Adenauers und damaliger EWG-Kommissionspräsident, vor türkischen Diplomaten in Ankara: „Die Türkei gehört zu Europa. Das ist der tiefste Sinn dieses Vorgangs: Er ist, in der denkbar zeitgemäßesten Form, die Bestätigung einer Wahrheit, die mehr ist als ein abgekürzter Ausdruck einer geografischen Aussage oder einer geschichtlichen Feststellung, die für einige Jahrhunderte Gültigkeit hat. Die Türkei gehört zu Europa.“
Der Start der türkischen Massenzuwanderung
Rechte Kommentatoren raunen immer wieder, die USA hätten der Bundesrepublik die Masseneinwanderung aus der Türkei aufgezwungen. Dem Autor ist es trotz umfangreicher Recherchen allerdings bislang nicht gelungen, Belege für diese Behauptung in den diplomatischen Quellen zu finden. Weitaus überzeugender scheint die These, dass die Kombination aus Arbeitskräftemangel, westgebundener Christdemokratie und „humanitärem Universalismus“ (Rolf-Peter Sieferle) die Voraussetzungen für das deutsch-türkische Gastarbeiterabkommen legten.
Der humanitäre Universalismus erlangte mit der 1945 in San Francisco beschlossenen UN-Charta Weltgültigkeit. Er etablierte das Konzept der souveränen Gleichheit aller Mitgliedstaaten. Die drei Jahre später beschlossene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gewährte allen Menschen den Anspruch auf Gleichheit „ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“.
Diese Werte fanden Eingang in das Grundgesetz, das auf Anordnung der westlichen Besatzungsmächte vom Parlamentarischen Rat unter dem Vorsitz Adenauers erarbeitet wurde. Adenauer und die Union waren aufgrund ihres Glaubens an das christliche Naturrecht für dieses Konzept besonders anfällig. Dies erkannten auch Diplomaten aus nichtchristlichen Ländern: Der Abschluss eines Anwerbeabkommens mit Griechenland im Frühjahr 1960 weckte den Neid türkischer Diplomaten. Im Dezember des gleichen Jahres beschwerten sich diese beim Auswärtigen Amt darüber, dass die Bundesrepublik noch immer kein Gastarbeiterabkommen mit der Türkei geschlossen habe.
Warum weitere Gastarbeiterabkommen folgten
Auch wenn das Bundesarbeitsministerium von der Idee eines deutsch-türkischen Gastarbeiterabkommens grundsätzlich nicht begeistert war, erkannte man dort die Zwänge durch den völkerrechtlich etablierten Universalismus sehr genau. In einem internen Briefwechsel warnten hochrangige Beamte im August 1960, bei Abschluss eines weiteren Anwerbeabkommens könnten sich „mit gutem Grunde einige andere Staaten, deren dahingehende Wünsche zurückgewiesen wurden, auf dieses neue Beispiel berufen und die erhaltenen Absagen als Diskriminierung auffassen“.
Genau in diese Falle tappte die Bundesregierung nach der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Gastarbeiterabkommens. Das Auswärtige Amt teilte dem Bundesarbeitsministerium im Mai 1965 mit, dass der tunesische Botschafter auf den Abschluss eines Gastarbeiterabkommens dränge: „Diesem Vorbringen gegenüber ist es schlechterdings nicht möglich, für einen ablehnenden Bescheid Gründe zu finden, deren Berechtigung von der tunesischen Seite auch nur einigermaßen eingesehen werden könnte. Unserem Standpunkt, wir wollten von Ländern außerhalb Europas nur Facharbeiter annehmen, setzen sie entgegen, sie fühlten sich uns gegenüber nicht fremder als die Spanier oder die Türken, die doch in großer Zahl bei uns arbeiten.“
Der Beitrag erschien ursprünglich in der FREILICH-Ausgabe Nr. 37 „Ausgebremst“. Hier bestellen.



