Deindustrialisierung & Energiekrise: Wenn aus Fabriken Museen werden

Die industrielle Revolution begann einst in Europa. Auf das Ende der Industrie und den Aufstieg der Dienstleister setzten viele Regierungen die letzten 40 Jahre, bis dann wieder der Schwenk in Richtung Industrie kam – doch bei den Energiepreisen wandern Betriebe ab.
Kommentar von Karin Kneissl
13.10.2022
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4 Minuten Lesezeit
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.

Als ich vor drei Jahren im norditalienischen Turin das Automobilmuseum und die einstige Fabrik von Fiat besuchte, die nunmehr ein schlecht besuchtes Kaufhaus ist, erfuhr ich, dass hier im Jahre 1909 die weltweit größte und modernste Autofabrik stand. Die Fabricca Italiana di Automobili Torino, besser bekannt unter der Abkürzung FIAT (im Lateinischen „es möge gemacht werden“), setzte Maßstäbe für die europäische Autoindustrie: mit Motorentechnik, Design, Probestrecken auf dem Autodach der Fabrik und einem genialen Marketing.

Zuerst Auslagern dann Rückholen

Wenn aus Fabriken Museen werden, dann sollte es einen innerlich schaudern. Bei mir war dies damals der Fall und ich schrieb ein Buch über die Mobilitätswende und ihre Tücken. Denn solche Museen sind auch in Deutschland allgegenwärtig. Besonders bedrückend empfand ich das Industriemuseum in Chemnitz, das zwar als Museum sehr einladend ist, doch die eindrucksvollen Daten und Fakten zur chemischen Industrie, und der damaligen angewandten Forschung, mit denen der Besucher konfrontiert wird, zeigen klar: in der vor 100 Jahren wichtigsten Industriestadt Europas befindet sich heute ein Provinzmuseum anstelle der Betriebe. Arbeitsplätze sind dauerhaft dahin, eine Schwere liegt über der einst so dynamischen Stadt.

Das Thema Deindustrialisierung wurde nicht im Jahr 2022 geprägt. Denn Auslagerung der Produktion findet in der Textilindustrie, im Stahlsektor und in der Automobilindustrie seit bald 40 Jahren statt. Der Zug nach Osten, wo die Löhne niedriger, die Auflagen geringer, die Steuern gleichsam inexistent sind, hat nicht nur die deutsche Industrie geprägt. Als Premierministerin Margret Thatcher Anfang der 1980er Jahre hart gegen die britischen Bergarbeiter vorgehen ließ, war das Motto, das Land, wo die industrielle Revolution ihren Ausgang genommen hatte, zum Dienstleister zu verwandeln. Anstelle des produzierenden Gewerbes übernahmen Banken, Versicherungen, Anwaltskanzleien und die Berater das Bruttonationalprodukt bis dann die Finanzkrise von 2008 vieles in Frage stellte. Ein Umdenken begann. In Deutschland meinte einer der damaligen Politiker: „Wir können ja nicht uns ständig gegenseitig die Haare schneiden“.

Also begannen einige europäische Regierungen wieder auf „Fabriqué en France“ et cetera und ein „backshoring“ zu setzen. Was zuvor aus Kostengründen ausgelagert worden war, sollte nun aus Kostengründen wieder nahe Forschung und Firmensitzen angesiedelt werden. London arbeitete im Zuge der Umsetzung des Brexits seit 2016 intensiv an einer Neuansiedlung von Betrieben.

Doch nun geht dieser oft zögerlichen Wirtschaftspolitik die Energie aus. Staatlich subventionierte Erneuerbare können nicht den Strom zu den Preisen erzeugen, der die Industrie im globalen Wettbewerb bestehen lässt. Deutsche Mittelstandsunternehmen zahlten bereits in den vergangenen Jahren um das Doppelte mehr an Stromkosten als ihre französischen Mitbewerber.

Im Frühjahr 2021 braute sich dann immer deutlicher die Energiekrise auf dem Strommarkt und im Erdöl-sowie Erdgasmarkt zusammen. Ursächlich hierfür waren massive Investitionslücken in die Erschließung neuer Energielieferungen, verzerrte Markstrukturen infolge diverser Green Deals und misslungene Liberalisierung. Von Innovation weit und breit keine Spur in Deutschland. Vielmehr Bürokratie, Klimaschutz Auflagen und ein katastrophales Bildungsniveau – all das war schon da, bevor die aktuelle mit Sanktionen und viel Moralismus hausgemachte Krise richtig begann.

Es war einmal die deutsche Forschung

Die deutsche Industrie zehrt immer noch von den Errungenschaften der Forscher und Unternehmensgründer des 19. Jahrhunderts. Es waren die Siemens, Bosch, Diesel, Liebig und viele andere, welche mit Wissen, Kreativität und vor allem Konsequenz die Grundlagen für „Made in Germany“ legten. Ein Großteil der deutschen DAX Unternehmen wurde vor dem Ersten Weltkrieg gegründet.

Die Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders liegen bereits in einer untergegangenen Welt. Der deutschen Industrie fehlt nun neben Fachkräften, rechtlichen Rahmenbedingungen und leistbaren Steuern vor allem die Energie. Die aktuellen Stromrechnungen bringen bereits viele Traditionsunternehmen in die Insolvenz. Sollten in drei bis fünf Jahren neue Energielieferanten anstelle des relativ günstigen russischen Erdgases bereitstehen, so stellt sich auch dann die Frage: zu welchen Kosten können deutsche Unternehmen angesichts des sonstigen Kostendrucks wettbewerbsmäßig produzieren?

Die Ersten übersiedeln in die USA

Das hoch gehypte Batterien Werk von Tesla zieht aus Deutschland in Richtung USA, ebenso verlegte der Autokonzern VW bereits Teile seiner Produktion in die USA. Bei allen geht es um die Energiekosten. Die USA scheinen die großen Gewinner zu sein. Denn für die energieintensive Industrie, wie Stahl, Aluminium aber vor allem die Petrochemie rechnet sich die Produktion in Europa derzeit und wohl auf absehbare Zeit nicht.

Der russische Präsident Vladimir Putin hatte vor einigen Tagen europäischen Unternehmen angeboten, bei Verlegung ihrer Produktion nach Russland, ein Jahr lang kostenfrei Energie zu beziehen. Eine interessante Ankündigung, die vielleicht so mancher Mittelständler aufgreifen wird – Sanktionsdruck hin oder her. Arbeitsplätze gehen aber im Moment zu Tausenden jeden Monat verloren. Was nun zerstört wird, das wird kaum so rasch wieder herzustellen sein. Der Wirtschaftsstandort Deutschland wird sich angesichts des ohnehin schon morschen Zustands kaum erholen. Und was macht die EU ohne den Nettozahler Deutschland?

(Der Gastkommentar von Karin Kneissl erschien ursprünglich am 25.9.2022 in der russischen Zeitung „Wedomosti“.)


Zur Person:

Dr. Karin Kneissl ist Expertin für Geopolitik und Energiewirtschaft. Die Buchautorin und ehemalige Diplomatin war von 2017 bis 2019 österreichische Außenministerin. Seit 2022 lebt Kneissl im Libanon.