TAGESSTIMME: Herr Fasbender, einige Monate Krieg sind ins Land gezogen. Wie ist die Stimmung in Russland selbst?
Thomas Fasbender: Mindestens gedrückt, kann man sagen. Mit der Teilmobilmachung ist der Krieg auch bei der russischen Bevölkerung angekommen, in den Familien, in den Städten und Dörfern. Trotz der einseitigen Berichterstattung in den staatlichen Medien bleibt niemandem verborgen, dass die militärische Spezialoperation, wie es offiziell heißt, längst nicht so läuft wie gewünscht. Im Gegenteil, gerade die Propagandisten sprechen die Defizite inzwischen offen an und fordern entschiedene Maßnahmen.
Die militärische Performance der Russen in der Ukraine ist – gelinde gesagt – nicht großartig. Fällt das auf Putin zurück?
Wenn man den Berichten glaubt, reichen die Zweifel am Krieg und an der Kriegsführung bis in die Staatsspitze hinein. Eine Zeitlang kann der Oberkommandierende, also der Präsident, das Ausbleiben von Erfolgen der Militärführung anlasten. Irgendwann wird er dann selbst zur Zielscheibe der Kritik. Seitens der Kriegspartei, also der sogenannten Falken, wird Putin bereits vorgeworfen, immer noch am selben Verteidigungsminister und am selben Generalstabschef festzuhalten.
Putin hat die Teilmobilmachung verkündet. Wie nimmt die russische Bevölkerung das auf?
Gemischt. Seit Bekanntgabe der Mobilmachung haben fast eine Million Männer das Land verlassen. Ein guter Teil der Einberufenen folgt allerdings auch der Aufforderung zum Dienst am Vaterland. Was auf sehr breite Kritik stößt, ist die weithin inkompetente organisatorische Durchführung. Da stehen Untaugliche auf den Listen, die Rekruten werden oft nicht versorgt, nicht einmal untergebracht, es fehlt an angemessener Ausstattung – kurz gesagt, der Staat blamiert sich auch in dieser Hinsicht.
Wie ist die wirtschaftliche Lage in Russland? Was machen die Sanktionen? Oder hat sich Russland global Alternativen gebaut?
Die Grundversorgung ist weiterhin sichergestellt, etwa mit Nahrungsmitteln. Auch die internationalen Finanzsanktionen wirken nur peripher. Was mehr und mehr greift, ist das Fehlen von Ersatzteilen und das Exportverbot von Halbleitern in der Industrie. Wirkliche Alternativen hat Russland noch nicht gefunden. Die Chinesen, die Inder und andere halten sich zurück. Niemand macht sich gern mit Losern gemein. Dennoch werden es nicht die Sanktionen sein, die Russland am schwersten zu schaffen machen. Das größte Problem sind die militärischen Defizite, die unzeitgemäße Kriegsführung. Auch der Mangel an ausgebildeten Truppen und an Munition und Präzisionswaffen, wie sie der Westen den Ukrainern zunehmend liefert.
Gibt es für die Russen ein Exitszenario aus dem Konflikt?
Wenn es Russland nicht gelingt, den Krieg zu seinen Gunsten zu drehen, werden die Ukraine und der Westen auf der Wiederherstellung der Ukraine in den Grenzen von 2013 bestehen. Das bedeutet die Räumung der Krim. Außerdem wird man enorme Reparationen fordern. Ich habe große Zweifel, ob ein russischer Präsident, der sich auf einen solchen Frieden einlässt, egal ob Putin oder ein anderer, im Amt überleben wird. Das gilt auch dann, wenn jemand wie Alexej Nawalny, den der Westen als Präsident begrüßen würde, an die Macht kommt. Da sind alle möglichen Szenarien bis hin zum Bürgerkrieg drin.
Zur Person:
Thomas Fasbender, Jahrgang 1957, aufgewachsen in Hamburg, gelernter Kaufmann und Journalist, Dr.phil., ist 1992 für einen internationalen Konzern nach Moskau gezogen. Aus Abenteuerlust, ein Sprung ins kalte Wasser: Kulturschock, Abwicklung altsowjetischer Joint Ventures, Überleben zwischen Inflation, Mafia, Korruption und Chaos. Vom ersten Tag an hat es gefunkt; er ist geblieben. Ab 2000 als Teilhaber einer Spinnerei und Weberei an der Wolga, später als Gründer und Chef eines Moskauer Unternehmens für Fuhrparkverwaltung. Um 2010 erwacht dann die Liebe zum Schreiben. 2014 erschien „Freiheit statt Demokratie. Russlands Weg und die Illusionen des Westens“, 2016 der Roman „Kinderlieb“, Ende 2021 dann „Wladimir W. Putin. Eine politische Biographie“. Seit 2015 lebt Fasbender als Journalist und Autor in Berlin.
Im November erscheint im Landt Verlag „Das unheimliche Jahrhundert“ von Thomas Fasbender.